Nach neuen Berichten wurden Gutachten zum radioaktiven Müll manipuliert. Minister Sigmar Gabriel hat die Witterung aufgenommen.
München/Hamburg. Das atompolitische Erbe der Bundesregierung von Helmut Kohl wird zum Ernstfall für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD). Kurz vor der Bundestagswahl sind jetzt Dokumente aufgetaucht, die belegen: Kohls Regierung hat Einfluss auf ein zentrales Gutachten zur Atom-Endlagerstätte Gorleben genommen.
Am Mittwoch spitzte sich der Streit über den Standort Gorleben als künftiges Atommüll-Endlager und über angebliche Manipulationen bei der Begutachtung zuKanzlerin Merkel will deshalb die umstrittenen Dokumente aus der Kohl-Regierung zur Endlager-Suche vorbehaltlos überprüfen lassen, um die Lage zweieinhalb Wochen vor der Bundestagswahl zu entschärfen. „Alle Akten kommen auf den Tisch“, sagte Vize-Regierungssprecher Klaus Vater am Mittwoch. „Sollte sich bei der Auswertung zeigen, dass da etwas nicht in Ordnung ist, wird man das mal bewerten“, betonte er im Namen der Kanzlerin. Angesichts von Schriftstücken von 1983über einseitige Einflussnahme der damaligen Regierung Helmut Kohl (CDU) forderte Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD): „Merkel sollte sich deutlich von Kohl distanzieren und einen Kurswechsel vornehmen.“
Erneut berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ über Schriftwechsel der damaligen schwarz-gelben Regierung. Dabei sei ein maßgebliches Gutachten zur Eignung des niedersächsischen Standorts Gorleben durch Eingriffe der Ressorts für Forschung und Inneres unter den Ministern Heinz Riesenhuber (CDU) und Friedrich Zimmermann (CSU) geschönt worden. Beide hätten die zuständige Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) zum Umschreiben eines maßgeblichen Gutachtens gedrängt. Das gehe aus einem Fernschreiben hervor, das das Forschungsministerium am 13. Mai 1983 an die Fachbehörde sandte. Zuvor hatte es fachliche Bedenken gegen die Einlagerung des Nuklearmülls im Salzstock gegeben. Gabriel bestätigte den Bericht und nannte die Einflussnahme pro Gorleben einen Skandal.
Vater merkte dazu kritisch an, dass die Akten der Regierung Kohl ausgerechnet drei Wochen vor der Bundestagswahl auftauchten, nachdem sie ein Vierteljahrhundert in den Aktenschränken geschlummert hätten. Der inzwischen 73-jährige Riesenhuber wies Gabriels Vorwürfe und Hinweise auf Manipulationen zurück. „Dass Herr Gabriel politische Manipulationen unterstellt, hat nur mit dem Wahlkampf zu tun, nicht mit der Sache.“ Er, Riesenhuber, habe immer die Unabhängigkeit der Wissenschaft respektiert. Nötig sei jetzt eine „zügige weitere wissenschaftliche Erkundung des Salzstocks Gorleben“.
Die Grünen kündigten einen Untersuchungsausschuss nach der Bundestagswahl an. Gabriel sprach sich gegen eine Weitererkundung Gorlebens aus, stellte aber einen Zeitplan für eine völlig neue Erkundung an anderen Standorten im Bundesgebiet auf – zum Beispiel in Bayern oder Baden-Württemberg, was diese Länder bisher rigoros ablehnen. Damit soll sichergestellt werden, dass 2040 nach Abklingen aller Atommeiler-Abfälle in den bisherigen Zwischenlagern ein Endlager in Betrieb gehen kann. Die Vizevorsitzende der Unionsfraktion des Bundestages, Katherina Reiche, forderte, jetzt erst recht Gorleben zu erkunden. Alternative Standorte haben die Koalitions-Wunschpartner Union und FDP nicht im Sinn. Solche Alternativen verlangen aber SPD und Grüne, um die Sicherheit der mindestens eine Million Jahre dauernden Lagerung zu gewährleisten.
Aus Sicht des Umweltministers müssen Alternativen zügig gesucht werden. Das müsse Bestandteil von Koalitionsverhandlungen mit der SPD sein, sagte Gabriel. Der Bundestag solle dafür im ersten Halbjahr 2010 das Auswahlverfahren in Gang bringen. Von 2011 bis 2013 – und damit bis zumEnde der kommenden Legislaturperiode – sollen dann potenzielle Endlager-Orte in Deutschland feststehen, die bis 2025 auf ihre Eignung hin untersucht werden sollen, auch in Bayern und Baden- Württemberg. Vermutlich kämen vier bis sechs Standorte in die Auswahl, sagte Gabriel. Zu überlegen sei, ob Niedersachsen und Sachsen-Anhalt mit ihren Endlagern für schwach und mittelradioaktiven Abfall nicht schon genügend Verantwortung übernommen hätten. Konkrete Regionen mit möglichen Endlager-Standorten nannte Gabriel aber nicht. Nach seinem Fahrplan könnte 2026 die endgültige Entscheidung für den Endlager- Standort fallen. Ein Planfeststellungsverfahren würde dann noch Jahre dauern, bis 2040 ein Endlager betriebsfertig wäre. Für die Erkundung rechnet Gabriel mit zwei bis vier Milliarden Euro Kosten.