Jahrelang trat in 750 Meter Tiefe radioaktiv verseuchte Lauge aus. Die Betreiber schwiegen. Wie aber lässt sich die tickende Zeitbombe entschärfen?
Remlingen. Es läutet schrill, die Tür schließt sich. Dann rauscht der Förderkorb mit zehn Metern in der Sekunde in den Schacht Asse II. Auf 750 Meter Tiefe ist es heiß und stickig, die Luft schmeckt nach Salz. Mit quietschenden Reifen fährt Annette Parlitz (36) den offenen Geländewagen durch das unterirdische Streckennetz. "Hier ist es", sagt die Besucherführerin und stoppt am Ende einer Sackgasse. "Kontrollbereich Radioaktiv" warnt ein Schild, davor hängt eine Kette. Hinter einem Regal mit Gummistiefeln lässt sich im Halbdunkel ein sumpfiges Loch ausmachen. Unscheinbar, aber sehr brisant.
Seit Jahren schon tritt aus der Wand vor Kammer 12 mit Caesium-137 kontaminierte Lauge aus - teilweise mit Werten, die die zulässige Obergrenze (10 000 Becquerel) um das Achtfache überschritten. Gemessen wurden auch Spuren von Strontium und Plutonium. Gewusst hat das bis vor Kurzem kaum jemand. Die Ursache ist unklar.
"Das ist ein Skandal. Ich bin schwer erschüttert", sagt Ursula Kleber (52). Die Bio-Bäuerin sitzt nur wenige Kilometer entfernt unter den schattigen Bäumen des Lindenhofs in Eilum (Kreis Wolfenbüttel). Altes Fachwerk, der Duft von frisch gebackenem Brot, aus dem offenen Stall stecken einige Jungbullen neugierig ihre Köpfe heraus. "Schön ist es hier nicht", sagt Kleber, die vor 20 Jahren aus dem Taunus kam.
Wäre da nicht die alte Grube mit fast 130 000 Fässern schwach und mittel radioaktive Mülls und die immer neuen Horrormeldung um deren Risiken. Auch wenn im Moment keine unmittelbare Gesundheitsgefahr besteht. "Uns schockiert, dass die Informationen nur scheibchenweise kommen", sagt die promovierte Landwirtin, die in der Bürgerinitiative Aktion Atommüllfreie Asse mitarbeitet. "Das macht misstrauisch, ob da mehr sein könnte."
Es brodelt in der ländlichen Idylle rund um den strahlenden Berg im Wolfenbüttler Land. Und nicht nur dort. Asse II, das bislang kaum jemand kannte, ist plötzlich im Brennpunkt der bundesdeutschen Atommüll-Diskussion. Der Salzberg, der als Endlager für die Ewigkeit halten sollte, ist schon nach 40 Jahren undicht.
Inzwischen ist ein Streit darüber entbrannt, wer was wann über die Sicherheitsprobleme im Schacht wusste - und wie das marode Atommüll-Lager zu sichern ist. In der Kritik sind neben dem Helmholtz-Zentrum München als Betreiber das zuständige Bundesforschungsministerium, das niedersächsische Umweltministerium und das Bergamt in Clausthal-Zellerfeld. Nach einem Krisengipfel in Berlin will Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) jetzt eine "Task Force" in das ehemalige Kali-Bergwerk schicken.
Denn die Betreiber haben die dubiose radioaktive Lauge vor Kammer 12 nicht nur weitgehend geheim gehalten, sondern auch über Jahre auf 950 Meter abgepumpt - insgesamt 77 Kubikmeter und offenbar ohne dafür eine Genehmigung zu haben. "Es wurde nichts verschwiegen", verteidigt Helmholtz-Mitarbeiterin Annette Parlitz das Vorgehen. "Es wurde als betrieblicher Ablauf angesehen." Im Januar 2008 stoppten die Verantwortlichen die Aktion. Der Sumpf vor Kammer 12 ließ sich nicht trockenlegen, wird aber derzeit auch nicht größer. Inzwischen gibt es ein offizielles Verbot vom Umweltministerium in Hannover. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat inzwischen nach NDR-Informationen ein Vorermittlungsverfahren wegen unerlaubten Umgangs mit radioaktiven Stoffen eingeleitet.
Unten im Berg spürt man von den Auseinandersetzungen oben wenig. Schweres Gerät brettert durch die kilometerlangen Stollen, nötige Ausbesserungen werden gemacht, in einer riesigen Halle lärmt eine Betonfertigungsanlage. Derzeit sind etwa 220 Mitarbeiter in Asse II beschäftigt. "Wir haben den Auftrag, die Schließung vorzubereiten", sagt Besucherführerin Parlitz, die sich über die Aufregung wundert. Im salzverkrusteten Wagen geht es hoch auf 658 Meter. In gefährlicher Nähe zum Deckgebirge an der Südseite des Bergs plätschert hoch gesättigte Salzlauge aus einem Rohr in ein großes Becken - täglich etwa 12 000 Liter. Schon seit 1988 sickert auch an der Wand von Kammer 3 Flüssigkeit unkontrolliert in den Berg. Der Betreiber fürchtet um die Standfestigkeit der Schachtanlage und dringt auf eine schnelle Schließung. Ein - umstrittenes - Gutachten sieht bereits ab 2014 Einbruchgefahren.
Schnell, ja, sagt Irmela Wrede (43), aber nicht ohne atomrechtliche Aufsicht. Die Tischlerin aus Mönchevahlberg will über eine Klage beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg erreichen, dass Asse II, das immer noch als Forschungsbergwerk gilt, nach Atomrecht geschlossen wird. "Nur so sind Sicherheit und Fachwissen gegeben", argumentiert die zweifache Mutter. Und macht auch klar, warum ihr das wichtig ist. "Jetzt läuft das Wasser noch in den Berg, aber was wird mit unserem Trinkwasser, wenn es irgendwann rauskommt?"
Anders als noch vor einem Jahr haben die Gegner des Atommüll-Lagers inzwischen breite Unterstützung. In vielen Gärten steht das große gelbe "A" aus Holz des Vereins aufpASSEn; zu einer großen Demonstration am kommen Sonntag werden Tausende Teilnehmer erwartet. Vielen ist die von den Asse-Betreibern geplante schnelle Flutung des gesamten Schachts mit einer Magnesiumchlorid-Lösung, die sich wie ein Schutzfluid über den brandgefährlichen Inhalt legen soll, suspekt. "Das ist wissenschaftliche Scharlatanerie. Wir wissen doch nicht, was in den nächsten Jahren passiert", wettert Ingenieur Frank Hoffmann (62). Rückendeckung bekommt die Bürgerinitiative vom Göttinger Chemie-Professor Rolf Bertram: "Wenn Lauge mit dem Atommüll in Verbindung kommt, kann es eine Menge chemischer Reaktionen geben."
Das lässt auch den kontaminierten Laugenschlick vor Kammer 12 besonders gefährlich erscheinen. Denn auch die Experten des Helmholtz-Zentrums müssen zugeben, dass sie nicht genau wissen, woher das Caesium-137 kommt. Möglicherweise sei ein Unfall 1973 mit einem der Atommüll-Fässer schuld an der Verunreinigung, heißt es aus München. Die Anwohner vermuten, dass leckende Atommüll-Fässer in der verschlossenen Kammer 12 der Grund sein könnten. Nachgucken kann man derzeit nicht.
"Das Vertrauen ist zerstört", sagt Heike Wiegel (48) nach den jüngsten Skandalmeldungen, die zufällig über ihre Nachfragen ans Licht gekommen waren. Seit fünf Jahren kämpft die SPD-Kreistagsabgeordnete um mehr Bürgerbeteiligung bei der Schließung des Atommüll-Lagers. Die Forderung: "Es müssen alle Optionen für die Schließung geprüft und die beste ausgewählt werden." Eine schnelle Flutung wäre eine Katastrophe, sagt die Mutter eines 14-jährigen Sohnes. "Dann ist der Atommüll nie wieder rückholbar." Genau das wäre aber aus Sicht der Anwohner die beste Option. Schließlich wird das mit anderem deutschen Atommüll auch so gemacht. Allerdings werden die Kosten auf mehrere Milliarden Euro geschätzt.
Sie habe immer geglaubt, dass der Widerstand gegen das Atommüll-Lager Asse II ein Kampf für spätere Generationen sei, sagt Bio-Bäuerin Kleber. Jetzt wisse sie, dass sie für sich selbst kämpfe. "Die Menschen haben eine diffuse Angst und sorgen sich um ihre Heimat", sagt sie. Weggehen will sie trotzdem nicht. "Nur wenn der Landkreis irgendwann evakuiert wird." Sie habe nie gedacht, dass sie darüber nachdenken müsse. "Ich werde aber immer weniger sicher."