Selbst gegenüber langjährigen Weggefährten, mit denen er am Montagnachmittag noch das Treffen des Koalitionsausschusses vorbereitete, hatte er kein Wort über seinen bevorstehenden Rücktritt verloren.
Berlin. "Der Franz hält die Karten so eng vor die Brust, dass er manchmal selbst kaum noch sieht, was er auf der Hand hat", so hat ein SPD-Linker einmal den scheidenden Bundesarbeitsminister und Vizekanzler beschrieben. Und so war es auch bis gestern Vormittag, als - wieder einmal - eine Entscheidung Franz Münteferings die SPD fast unvorbereitet traf. Selbst gegenüber langjährigen Weggefährten, mit denen er am späten Montagnachmittag noch das Treffen des Koalitionsausschusses vorbereitete, hatte "Münte" kein Wort über seinen bevorstehenden Rücktritt verloren. Nur sein engster Vertrauter, Kajo Wasserhövel, der SPD-Vorsitzende Kurt Beck und Fraktionschef Peter Struck waren am Montag schon im Bilde.
Die Situation ruft Erinnerungen an den Oktober 2005 hervor, als Müntefering seiner SPD mitteilte, dass er als Parteichef nicht erneut kandidieren werde. Der Auslöser damals war allerdings ein rein politischer: Müntefering hatte Wasserhövel nicht als Generalsekretär durchbringen können. Die Parteilinke Andrea Nahles hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.
"Ich war meistens ein Alleiner" - so beschreibt sich Müntefering selbst. Der heute 67-Jährige wurde am 16. Januar 1940 im Sauerland geboren. Er war Einzelkind. Seinen Vater, einen Knecht und Fabrikarbeiter, lernte er erst nach dem Krieg kennen, als dieser aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Nach dem Abschluss der Volksschule lernte er Industriekaufmann. Seine politische Laufbahn währt schon mehr als 40 Jahre: 1966 trat Müntefering in die SPD ein, 1967 in die IG Metall. Wenig später verlor er durch einen tragischen Unfall seinen einzigen wirklich engen Freund. Die beiden kannten sich schon seit dem Kindergarten. So einen Freund habe er nie wieder gehabt, sagt Müntefering. Und so erklärt sich auch, dass er sich selbst als "wenig kumpelig" bezeichnet.
Umso tragischer ist es, dass seine zweite Ehefrau Ankepetra, mit der Müntefering seit 1995 verheiratet ist, seit Jahren gegen den Krebs kämpft. Sie sei "ein Kumpel, mit dem man Pferde stehlen kann", hat er einmal über sie gesagt. Und am Tag nach dem SPD-Parteitag in Hamburg war es offensichtlich, dass die heimtückische Krankheit erneut mit voller Wucht zugeschlagen hatte, erneut eine schwere Operation erforderlich war. Sie hatte ihre Arbeit im Büro von SPD-Fraktionsgeschäftsführer Olaf Scholz bereits aufgegeben.
Seine Frau werde eine lange Reha-Behandlung durchlaufen müssen, sagte Müntefering jetzt. "Ich möchte gern eng dabei sein. Diese Aufgabe ist jetzt die wichtigste." Gleichzeitig ein Ministerium zu lenken, das gehe nicht. Sein Rücktritt sei "ausdrücklich nicht politisch motiviert".
Der scheidende Arbeitsminister, der die Koalition durch manche Schwierigkeiten lotste, zeichnet sich durch eine, wie er selbst bekennt, "Neigung zur klaren Kante" und eine gewisse Sturheit aus. "Gute Politik beginnt immer mit dem Aussprechen der Wahrheit." Und so sollte er es halten. Auch im Streit mit SPD-Chef Kurt Beck, der Anfang Oktober überraschend vorgeschlagen hatte, das Arbeitslosengeld I an Ältere länger auszuzahlen. Was Müntefering, der eine Entwicklung vom SPD-Traditionalisten zum Reformbefürworter durchlaufen hatte, nicht gutheißen konnte.
Wenn er richtig zornig sei, werde er eher leise, sagt Müntefering über sich selbst. So war es auch in den Wochen seit dem SPD-Parteitag in Hamburg still um ihn geworden. Auch wenn ihn "rein familiäre und persönliche Gründe" jetzt zum Rücktritt bewogen haben, so dürfte sich eine gehörige Portion Wut und Ernüchterung daruntergemischt haben. Über den eigenen Parteichef, der ihn beim Thema Arbeitslosengeld I so brüskierte - und über den Koalitionspartner und dessen Verweigerungshaltung beim Mindestlohn. Auch gestern klang menschliche Enttäuschung in Bezug auf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) durch.
Das politische Berlin wird Münteferings Dreiwortlyrik vermissen. Auch wenn er sein Bundestagsmandat behalten will, werden Zitate wie "Opposition ist Mist" jetzt seltener zu vernehmen sein. Parteifreunde sagen, Müntefering wolle definitiv keine Autobiografie schreiben. Aber er schloss nicht aus, sich 2010 im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen einzubringen. Jedoch nicht als Gegenkandidat zum Landesvater Jürgen Rüttgers. "Ein Arbeiterführer reicht", gab Müntefering schmunzelnd zu Protokoll.