Sozial- und Wirtschaftspolitiker der Union bemängeln eigene Gesetzesvorhaben. SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier fordert von der CDU-Chefin “mutige Führung“.
Berlin. Massive Attacken aus der SPD, neue Nörgeleien von Sozial- und Wirtschaftspolitikern der Union, böse Worte von FDP-Chef Guido Westerwelle: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stieß am Tag ihrer Regierungserklärung im Bundestag auf Fronten der Kritik quer durch die große Koalition und ihre eigene Partei.
SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier und SPD-Chef Franz Müntefering warfen Merkel schwere Fehler und Unglaubwürdigkeit im Kampf gegen die Rezession vor. Die Kanzlerin sei nur noch "Geschäftsführerin" der Bundesregierung, sagte Müntefering. Merkels Auftritte im Ausland seien "nicht glaubwürdig", wenn sie zu Hause zulasse, dass wichtige Vorhaben aus den eigenen Reihen blockiert werden. Steinmeier kritisierte speziell Merkels Haltung zur Reform der Jobcenter. Auch Müntefering hielt Merkel vor, sie habe sich gegen ihre eigene Überzeugung den parteiinternen Gegnern der Reform gebeugt und somit "gegen sich selbst gestimmt". Ähnliches wäre ihrem Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) niemals passiert. Steinmeier verlangte von Merkel "mutige Führung".
CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla geißelte in einer ersten Reaktion die "verantwortungslosen Attacken" der SPD, die offenbar den Schalter bereits auf Wahlkampf umgelegt habe. Tatsächlich hatte die Unionsfraktion am Dienstag mit Unterstützung von Merkel die Neuordnung der Hartz-IV-Jobcenter gestoppt und einen von Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) gemeinsam mit unionsregierten Ländern im Auftrag Merkels ausgearbeiteten Kompromiss abgelehnt. Die Kanzlerin ging in ihrer Regierungserklärung nicht direkt auf die Attacken ein und verteidigte allgemein den Koalitionskurs in der Krise: "Wir leisten Überdurchschnittliches", betonte sie. Und warnte vor einem "Überbietungswettbewerb von Versprechungen". Die deutschen Konjunkturprogramme umfassten immerhin 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für 2009 und 2010.
Doch auch aus den eigenen Reihen kam gestern neue Kritik. Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann sprach im "Deutschlandradio" von einer "politisch nicht nachvollziehbaren" Entscheidung bei der Reform der Jobcenter. Jetzt müssten die Länder über den Bundesrat versuchen, das Gesetz zu retten. Der wirtschaftspolitische Flügel der Union stürzte sich indes auf die Pläne der Koalition, Beiträge zu Haftpflicht- und anderen Versicherungen nur noch begrenzt steuerlich absetzbar zu machen, sobald die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Absetzbarkeit der Krankenversicherungsbeiträge greift: "Ich akzeptiere diese Vorschläge nicht, sie müssen geändert werden", sagte Michael Fuchs, Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU, dem Abendblatt. Kurt Lauk, Präsident des CDU-Wirtschaftsrats, warnte ebenfalls: "Dadurch schrumpft die versprochene Entlastung zusammen. Gerade in der Krise sollte aber mit dem Vertrauen der Bürger nicht gespielt werden."
Für FDP-Chef Guido Westerwelle war die Diagnose im Bundestag angesichts dieser Gemengelage gestern klar: "Sie haben ihren Kompass in der Großen Koalition verloren", warf er Merkel vor. Die Regierung sei in einem "katastrophalen Zustand".