SPD und Grüne klagen gegen die Novelle, weil Überhangmandate und andere Regelungen zu groben Verzerrungen führten.
Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht will möglichst rasch entscheiden, ob das neue Wahlrecht verfassungsgemäß ist oder geändert werden muss. Der Zweite Senat will Rechtssicherheit schaffen, bevor die Vorbereitungen zur Bundestagswahl im Herbst 2013 anlaufen, wie bei der mündlichen Verhandlung am Dienstag in Karlsruhe deutlich wurde. Einen Termin für die Urteilsverkündung gibt es aber noch nicht. Die Politiker mussten einen doppelten Tadel des Gerichts einstecken: Das Wahlrecht sei zu spät und nicht einvernehmlich umgesetzt worden.
SPD und Grüne klagen gegen die Novelle, weil Überhangmandate und andere Regelungen zu groben Verzerrungen führten. Am Ende hätten einzelne Parteien mehr Mandatsträger im Parlament, als es ihrem Stimmanteil entspreche. Damit seien die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht eingehalten worden. Das Gericht hatte 2008 das Wahlrecht teilweise für verfassungswidrig erklärt und Korrekturen verlangt.
Vor allem die große Zahl der Überhangmandate wird von der Opposition als Verzerrung der Wahl kritisiert. Überhangmandate entstehen durch die Erststimmen. Der Kandidat mit den meisten Erststimmen im Wahlkreis erhält auf jeden Fall ein Direktmandat im Bundestag. Gibt es für eine Partei mehr Direktmandate, als ihr Sitze im Parlament zustehen, entstehen zusätzliche Überhangmandate.
+++ Bundestag reformiert deutsches Wahlrecht +++
SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann rechnete vor, dass fast vier Prozent der Bundestagssitze Überhangmandate sind. Alleinin Baden-Württemberg erreichte die CDU 2009 zehn Überhangmandate. Die Schieflage werde deutlich, wenn man bedenke, dass Hamburg nur 13 Sitze im Bundestag hat. Im Extremfall könnten Überhangmandate sogar zu einer Umkehr der Mehrheitsverhältnisse führen, sagte Oppermann.
Sein Kollege von den Grünen, Volker Beck, kritisierte, dass Union und FDP das Gesetz im Alleingang verabschiedet hätten. Vor allem die CDU profitiere von den Überhangmandaten. Beck forderte das Bundesverfassungsgericht auf: 2Stoppen Sie diese Selbstbedienung der Koalition."
Unionsfraktionsvize Günter Krings verteidigte das neue Wahlrecht. "Die Koalition ist nicht Profiteur dieses Wahlrechts, sie hätte zwei Mandate weniger als 2009", sagte Krings. Er sei überzeugt, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts von 2008 erfüllt wurden. Im Übrigen hätten auch die Vorschläge der SPD und der Grünen für ein neues Wahlrecht zu Verzerrungen geführt, argumentierte Krings.
Die Meinungen unter den Richtern waren unterschiedlich, ob Abweichungen bei der Sitzverteilung nicht Folge des deutschen Wahlsystems sind. Denn neben der Zweitstimme, die über die Stärke der Partei im Parlament bestimmt, gibt es die Erststimme. Mit der entscheidet der Wähler, welchen Kandidaten er aus seinem Wahlkreis in den Bundestag entsenden will. Wer die meisten Erststimmen im Wahlkreis erhält, sitzt sicher im Parlament.
Vor allem für Bundesverfassungsrichter Peter Müller, früher CDU-Ministerpräsident im Saarland, ist das deutsche Wahlrecht eben kein reines Verhältniswahlrecht, das eine spiegelbildliche Abbildung der Zweitstimmen im Bundestag verlangt.
Die Vertreter von SPD und Grünen betonten dagegen die Verhältniswahl. Der Zweitstimmenanteil müsse über die Sitze der Partei im Bundestag bestimmen.
Tatsächlich hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 2008 nicht die Überhangmandate für verfassungswidrig erklärt, sondern allein das negative Stimmgewicht. Es dürfe nicht mehr Sitze für weniger Stimmen geben. Das neue Wahlrecht reduziert nach Angaben von Krings diesen Effekt deutlich. Auch die alternativen Gesetzentwürfe der SPD und der Grünen hätten jedoch Mängel.
Diesen Einwand nahmen einige Verfassungsrichter ernst. Richterin Gertrude Lübbe-Wolff fragte die Kläger, ob man vor einer Verwerfung des geltenden Wahlgesetzes nicht auch die Alternativen prüfen müsse.
Zu Beginn der Verhandlung musste sich die schwarz-gelbe Koalition deutliche Kritik vom Gerichtspräsidenten gefallen lassen. "Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz vorzulegen", mahnte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle.
Er kritisierte, die Politik habe nicht die von den Karlsruher Richtern gesetzte Frist bis zum 30. Juni 2011 eingehalten, sondern die Reform erst verspätet im Dezember in Kraft gesetzt. Jetzt werde die Zeit knapp, bis zur Bundestagswahl 2013 die Verfassungsmäßigkeit der neuen Wahlordnung zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, sagte Voßkuhle.