Bodrum/Hamburg. Der Junge hieß wohl Aylan Kurdi. Seine Familie wollte nach Kanada. Das tote Flüchtlingskind dokumentiert die humanitäre Katastrophe.
Hunderte Flüchtlinge kommen jeden Tag, jede Nacht über die Meerenge zwischen der Türkei und der Insel Kos nach Griechenland. Die Situation auf Kos ist so dramatisch, dass sogar Mitarbeiter der Reiseveranstalters Alltours Kleiderspenden sammeln und sie von Düsseldorf mit Air Berlin auf die Insel fliegen. An Urlaub und Vergnügen ist angesichts dieser Dramatik nicht zu denken. Auch die Feriengäste vor Ort sind erschüttert. Nun bewegt der Fall eines toten Flüchtlingskindes auf der türkischen Seite am Strand von Bodrum die Welt.
Das Foto des Kindes, das in sozialen Netzen wie Facebook und Twitter häufig geteilt wurde, hat große Betroffenheit und Diskussionen hervorgerufen. Mehrere Bilder von Nachrichtenagenturen zeigen den Körper des Kindes leblos am Strand, als sei das Kind gerade angespült worden.
„Es reicht“, titelte die Athener Zeitung „Ta Nea“ über dem Bild des Kindes auf der ersten Seite. Europa zeige sich „unzulänglich“ in dem Migrations-Drama. Ähnlich reagierte die linke Zeitung „Efimerida ton Syntakton“: „Was versteht Ihr denn nicht?“, fragt das Blatt in Richtung Europa. Die Werte der Europäischen Kultur würden zu Land und zu Wasser auf die Probe gestellt, meint das Blatt.
Die linksliberale spanische Zeitung „El País“ schrieb: „Die EU entstand, um den Frieden zu verteidigen und den Wohlfahrtsstaat aufzubauen, aber sie ist nicht in der Lage, sich mit ihrem derzeit größten Problem auseinanderzusetzen. Europa erleidet Schiffbruch in der Frage der Zuwanderung."
Viele Medien rund um den Globus haben Bilder des Kindes veröffentlicht. Der Umgang mit Bildern von Toten ist umstritten. Das Bild dieses Jungen repräsentiert und dokumentiert leider die Katastrophe, der die Menschen ausgesetzt sind, die aus ihrer Heimat vor Krieg und Verfolgung fliehen.
Foto verbreitet sich wie ein Lauffeuer
Unter dem Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik (in etwa: „Menschheit an die Küste gespült“) sorgten die Fotos auf Twitter für zahlreiche Reaktionen. „Alles, was bleiben wird, sind unsere gebrochenen Herzen“, schrieb ein Nutzer. „Wenn dieses Bild die Welt nicht verändert, haben wir alle versagt“, schrieb eine andere. „Mir kamen die Tränen (...)“, meinte eine weitere. „Ohne Worte“, schrieb ein weiterer Nutzer. „Ohne Worte“, schrieb ein weiterer Nutzer.
Der dreijährige Junge, der Aylan Kurdi heißen soll, gehörte einem Bericht des „Guardian“ zufolge zu einer Gruppe von mindestens zwölf syrischen Flüchtlingen, die am Mittwoch vor der türkischen Küste ertrunken waren. Auch sein fünfjähriger Bruder soll ums Leben gekommen sein.
Der Junge soll aus dem syrischen Kobane stammen und machte mit seiner Familie die gefährliche Überfahrt zur Hafenstadt Kos in Griechenland. Nach Angaben der Zeitung „Ottawa Citizen“ wollte die Familie nach Kanada.
Deutschland, Europa und die Flüchtlingsfrage
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Unter den Toten seien drei Kinder, berichtete die türkische Nachrichtenagentur DHA. Fünf der überwiegend aus Syrien stammenden Flüchtlinge würden noch vermisst. Die Boote seien vom westtürkischen Akyaka im Bezirk Bodrum aus gestartet und hätten die griechische Insel Kos als Ziel gehabt. Einige Migranten konnten nach dem Unglück zurück zur türkischen Küste schwimmen.
Dritte Fähre auf Flüchtlingsroute geplant
In der griechischen Hafenstadt Piräus kamen am frühen Mittwochmorgen 2500 Migranten an Bord der Fähre „Eleftherios Venizelos“ an. Bereits am späten Dienstagabend hatte die Fähre „Tera Jet“ mehr als 1700 Migranten nach Piräus gebracht, wie die griechische Küstenwache am Mittwoch mitteilte. Die Schiffe hatten die Migranten aus der völlig überfüllten Insel Lesbos abgeholt. Beide Fähren sollten am Nachmittag erneut auslaufen, um weitere Migranten zum Festland zu bringen. In der kommenden Woche soll nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur eine dritte Fähre auf dieser Route eingesetzt werden.
Pressestimmen von Mittwoch
"The Guardian" (England)
„Visionäre Sprache hört man von Befürwortern Europas derzeit selten; Versuche, die EU als Unterfangen auf moralischer Grundlage zu beschreiben, ziehen leicht Spott und Hohn auf sich. Die tapfere Haltung, die Angela Merkel - eine Frau, über die man sich nicht leicht lustig macht - in der Flüchtlings- und Migrationskrise eingenommen hat, verdient deshalb genaue Aufmerksamkeit. Die deutsche Kanzlerin hat die Führung für ein Problem übernommen, das zu lange nur zu Gezänk zwischen den Mitgliedsstaaten geführt hat und Kanonenfutter wurde für Populisten, die ihre Länder von der Außenwelt abschirmen wollen.“
„Nepszabadsag“ (Ungarn)
„Ungarns Regierung stellt sich als Verteidigerin Europas dar und will nicht einsehen, dass die technische Grenzsperre (der Grenzzaun) bisher ein völliges Fiasko war. Während alle auf eine gemeinsame Lösung dringen, schieben das Trio Berlin-Paris-Wien und Budapest sich gegenseitig die Verantwortung zu. Alle können etwas dafür, aber die ständigen Beleidigungen ... führen nicht weiter. Im Sommer und Herbst 1989 hat Ungarn im Umgang mit den ostdeutschen Flüchtlingen ein riesiges Vertrauenskapital gesammelt. Auch 2015 wäre ein solches Renommee nötig. Es täte gut. Uns allen.“
„Der Standard“ (Österreich)
„Der Schock durch die 71 toten Flüchtlinge im eigenen Land hat etwas bewirkt. Etwa, dass mehr als zwanzigtausend Menschen auf die Straße gehen, um Flüchtlingen zu zeigen: Ihr seid willkommen. Das ist ein starkes Signal. Genauso wie jene Österreicher, die spontan helfen, die in Wien am Bahnhof gestrandeten Flüchtlinge zu versorgen... Die Szenen erinnerten an den Herbst 1989, als Züge voller Menschen aus Osteuropa durch Österreich nach (West-)Deutschland fuhren. Im Hintergrund dürfte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die Fäden gezogen haben, um die Ausreise dieser Menschen zu ermöglichen. Ihre Erfahrungen in der DDR und rund um den Mauerfall haben dabei sicher eine Rolle gespielt. Dieser Tag und diese Reaktionen sind ein Grund zur Freude und ein Grund, wieder positiver in die Zukunft zu blicken. Österreich ist, um einen Begriff des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck abzuwandeln, ein bisschen heller geworden.“
„Tagesanzeiger“ (Schweiz)
„Klar ist, dass angesichts von Krieg und Misere in der nächsten Nachbarschaft das Problem nicht rasch wieder verschwinden wird. Ein erster Schritt wäre schon einmal, den Zustrom auch als Chance für den alternden Kontinent zu sehen. Die gute Nachricht ist, dass das oft verzagte Europa offenbar noch immer Zufluchts- und Sehnsuchtsort ist. Der zweite Schritt wäre, zu sagen, dass es keine Zauberlösung gibt. Abschottung oder etwa die Rückkehr zu Kontrollen an den Binnengrenzen im Schengen-Land befeuern nur das Geschäft der Schlepper. Andere Maßnahmen können immer nur Teil einer Lösung sein. So etwa der Vorschlag aus Brüssel eines Verteilschlüssels für Asylbewerber. Der Verteilschlüssel wird alleine zwar nicht viel daran ändern, dass Deutschland für Flüchtlinge attraktiver bleiben wird als etwa der Osten Ungarns. Der Akt der Solidarität zwischen den EU-Staaten ist aber nur schon aus politischen und symbolischen Gründen wichtig.“
„Le Monde“ (Frankreich)
„Grenzstaaten der EU wie Griechenland, Italien, Ungarn, die alle überlaufen sind, brauchen weniger moralische Lektionen, sondern vielmehr konsequente Unterstützung bei der Errichtung von Aufnahmezentren, wo eine Vorauswahl zwischen Anwärtern mit Flüchtlingsstatus und Wirtschaftsflüchtlingen ... vorgenommen werden kann. Letztlich heißt das, Europa wird sich bei Herkunftsstaaten im Großraum Mittlerer Osten und in Afrika auf eine gemeinsame Migrationspolitik einigen müssen. Das würde bedeuten, sich über eine Liste der sogenannten sicheren Staaten zu verständigen, deren Staatsangehörige kein Anrecht auf den Status als politische Flüchtlinge haben, die Asylgesetzgebung zu vereinheitlichen und einen gemeinsam beschlossenen Verteilungsschlüssel zu akzeptieren.“
„de Volkskrant“ (Niederlande)
„Der Euro steht als Symbol für wirtschaftliche Kraft und Stabilität und Deutschland wird als größte europäische Volkswirtschaft selbstverständlich damit assoziiert. Dieses Bild wird bei Migranten noch durch die Rolle verstärkt, die (Bundeskanzlerin) Angela Merkel in der griechischen Schuldenkrise gespielt hat. In Deutschland gibt es Arbeit und das macht das Land vor allem für Syrer, die oft gut ausgebildet sind, zu einem attraktiven Ziel. Viele syrische Flüchtlinge haben lange gewartet, ehe sie die Überfahrt wagten, denn sie hofften immer noch, dass Ruhe und Frieden in ihr Land zurückkehren würden. Die rund vier Millionen Syrer, die ihr Land verlassen haben, leben nun schon seit Jahren in Flüchtlingsunterkünften (in benachbarten Ländern). ... Die Hoffnung auf eine sichere Rückkehr ist mittlerweile verflogen und die Menschen wollen eine Zukunft für sich und ihre Kinder.“
„Pravo“ (Tschechien)
„Den Drohungen Frankreichs an die Adresse der mitteleuropäischen Staaten haben sich Österreich und nun auch Deutschland angeschlossen: Wenn verpflichtende Quoten nicht akzeptiert werden, könnten die Grenzen wieder geschlossen werden! Der Druck auf Länder wie Tschechien nimmt an Intensität zu. Es ist denkbar, dass die starken westlichen Staaten das östliche Europa auf diese Weise tatsächlich zur Annahme von Quoten nötigen werden. Doch mit einer solchen Vorgehensweise erweisen sie den europäischen Werten und dem europäischem Gedanken einen Bärendienst. Tragisch daran ist, dass das ganze westliche Geschreie um Quoten den Flüchtlingen nicht hilft. Quoten ermöglichen es nur ihren Befürwortern, Aktivität vorzutäuschen.“
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Auch am Mittwoch kamen nach Berichten örtlicher Medien Hunderte Migranten aus der Türkei auf den griechischen Ostägäis-Inseln an. Sie kommen meist mit einfachen Schlauchbooten, die leicht kentern. In den vergangenen Wochen versammelten sich Hunderte Flüchtlinge vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Bodrum, um auf die von Schmugglern organisierte Überfahrt nach Kos und Kalymnos zu warten.
Chaotische Zustände auf Inseln der Ostägäis
Die Türkei hat nach Regierungsangaben rund zwei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Nur ein kleiner Teil ist in einem der 25 Flüchtlingslager untergebracht. Außerhalb der Lager sind die Flüchtlinge auf sich alleine gestellt.
Der Weg der Flüchtlinge aus der Türkei führt von Griechenland über Mazedonien und Serbien nach Ungarn und Österreich. Viele der überwiegend syrischen Flüchtlinge wollen weiter nach Deutschland.
Auf Inseln der Ostägäis herrschen teils chaotische Zustände. Hunderte Migranten schlafen im Freien und werden nicht richtig versorgt, weil die Behörden kein Geld haben. Betroffen sind vor allem die Inseln Leros, Kos, Lesbos, Kalymnos, Samos und Agathonisi. Auf Lesbos kam es am Mittwoch erneut zu Protesten Hunderter Migranten im Hafen des Hauptortes der Insel Mytilini. Sie forderten mehr Fähren, die sie zum Festland bringen sollen.
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