Syriens Diktator Assad besitzt offenbar nicht nur Giftgas, sondern auch biologische Kampfstoffe. Setzt er sie ein, wollen die USA reagieren.
Berlin. Es war eine Warnung, die der Weltöffentlichkeit klargemacht hat, wie explosiv die Lage in Syrien ist. Seit Monaten erklären Politiker und Experten weltweit immer wieder, eine militärische Intervention sei nicht denkbar, weil die Risiken unkalkulierbar seien, doch nun hat US-Präsident Barack Obama die "rote Linie" definiert, ab der ein Einsatz dennoch notwendig werden könne: "Wir dürfen nicht in die Situation kommen, dass chemische oder biologische Waffen in die falschen Hände fallen", sagte der Präsident und fügte hinzu, "dass es enorme Konsequenzen hätte, wenn wir an der Chemiewaffenfront Bewegung oder den Einsatz chemischer Waffen sehen". Dann, so gab der Präsident zu verstehen, wäre es mit der militärischen Zurückhaltung vorbei. "Das würde meine Kalkulationen erheblich ändern."
Nach Informationen der "Welt" ist Syriens Potenzial an Massenvernichtungswaffen noch weitaus größer als bisher angenommen. Denn neben Chemiewaffen verfügt Diktator Assad über zahlreiche biologische Kampfstoffe. In seinem Beitrag für die Zeitung schreibt der Waffenexperte Hans Rühle, das Regime in Damaskus arbeite an einsatzfähigen Erregern von Milzbrand, Pest, Tularemia (Hasenpest), Botulinum, Cholera, Ricin, Kamelpocken, Blattern und Aflatoxin. Einige Stoffe seien bereits getestet worden, zum Teil stammten sie aus Sowjet-Programmen, welche die Stoffe schon bis zur industriellen Produktion und militärischen Einsetzbarkeit fortentwickelt hätten. Bisher galten Syriens Forschungen als nicht praxistauglich.
Rühle, in den 80er-Jahren Leiter des Planungsstabes im Bundesverteidigungsministerium, stützt sich auf Geheimdiensterkenntnisse und einschlägige Forschungen. Das syrische Biowaffenprogramm sei vor allem auf einen Einsatz gegen Israel ausgerichtet. Nach den bisher verfügbaren Erkenntnissen scheine dabei vor allem eine Schwächung der israelischen Kampfkraft durch Erkrankung der Soldaten im Zentrum zu stehen. Auch ein Einsatz gegen die Zivilbevölkerung sei möglich, da Syrien über Kampfstoffe verfüge, die durch gängige Wasser- und Luftfilter nicht gestoppt werden könnten. Obama hatte in seiner Warnung an Damaskus gesagt: "Es betrifft unsere engen Verbündeten in der Region, darunter Israel. Es betrifft uns." Bisher habe er keine Intervention angeordnet, sagte Obama. Aber die USA hätten Präsident Baschar al-Assad und "jedem Spieler in der Region" unmissverständlich klargemacht, "dass es enorme Konsequenzen hätte, wenn wir an der Chemiewaffenfront Bewegung oder den Einsatz chemischer Waffen sehen".
Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) forderte "alle Kräfte in Syrien und insbesondere das Assad-Regime auf, hier nicht mit dem Feuer zu spielen": "Wir müssen alles dafür tun, damit dieses Szenario nicht eintritt und die Chemiewaffen nicht in falsche Hände geraten."
Aus Moskau hieß es hingegen, Russland lege viel Wert darauf, dass internationales Recht und die Charta der Vereinten Nationen nicht verletzt würden. "Das ist überaus wichtig", sagte Außenminister Sergej Lawrow. Darin bestehe Einigkeit mit China, sagte Lawrow bei einem Treffen mit einem chinesischen Spitzendiplomaten. Beim Besuch einer syrischen Delegation in Moskau stellte er sich demonstrativ hinter die Führung in Damaskus.
Israel hatte schon vor Wochen die Befürchtung geäußert, die syrischen Massenvernichtungswaffen könnten in den Bürgerkriegswirren in die Hände von Extremisten der islamistischen Hisbollah im Libanon geraten. Außenminister Avigdor Liebermann bezeichnete ein solches Szenario damals ebenfalls als "rote Linie" und "klaren Casus Belli", also als Kriegsgrund. Der israelische Abwehrexperte David Friedman vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) hält diese Drohung für durchaus ernst gemeint. Er rate allerdings seiner Regierung, den USA den Vortritt zu lassen.
Der US-Geheimdienst CIA schätzt, dass Syrien über mehrere Hundert Liter chemischer Kampfstoffe verfügt, unter anderem über Senfgas, Tabun und das Nervengas Sarin - das größte Chemiewaffenarsenal im Nahen Osten. In ungekannter Offenheit hatte das Assad-Regime dies Mitte Juli eingeräumt, als weltweit die Angst wuchs, der bedrängte Machthaber könnte diese Waffen gegen die Aufständischen einsetzen. Schon damals warnte Obama Assad vor einem "tragischen Fehler". Die Welt sehe genau hin und werde das Regime zur Verantwortung ziehen.
Die jetzigen Aussagen kommentierte die syrische Staatsagentur so: "Obama hat wieder einmal Angst vor irgendwelchen Waffen verbreitet, von denen man viel hört und über die viel gelogen wird. Dabei hat er Hunderte von atomaren Sprengköpfen vergessen, die Israel besitzt, und die eine Bedrohung für die Sicherheit der Region darstellen." Der Vizeregierungschef Kadri Dschamil sagte gestern bei einem Besuch in Moskau: "Der Westen sucht nach einer Ausrede, um sich direkt in die Angelegenheiten unseres Landes einzumischen."
In Syrien gingen die Auseinandersetzungen mit unverminderter Härte weiter. Dabei starben auch zwei ausländische Berichterstatter. In der umkämpften Metropole Aleppo wurde eine japanische Journalistin getötet, nach Medienberichten die preisgekrönte Mika Yamamoto, 45, die zuvor aus Afghanistan und dem Irak berichtet hatte. Im selben Gefecht fielen nach Angaben von Assad-Gegnern ein türkischer Kameramann und ein palästinensischer Reporter Milizionären des Regimes in die Hände. Der Türke sei auf der Straße mit einen Kopfschuss getötet worden, der Palästinenser sei zum Verhör gebracht worden. Eine Bestätigung von unabhängiger Seite lag zunächst nicht vor.
Syrische Aktivisten haben in einem vormals umkämpften Vorort von Damaskus 40 Leichen entdeckt. Bei den Toten, die in dem Keller eines Gebäudes an der Hauptstraße von Moadhamijat al-Scham gefunden worden seien, handele es sich um Opfer der Truppen des Regimes, teilte die Allgemeine Kommission der Syrischen Revolution mit.
Die Vereinigung Scham News Network berichtete, die Armee habe in dem Vorort von Hubschraubern aus das Feuer eröffnet, als Angehörige und Regimegegner andere Opfer der jüngsten Kämpfe und Hinrichtungen zu Grabe trugen. Auf dem Friedhof seien 16 Menschen ums Leben gekommen. Syrische Regimegegner berichteten außerdem, dass der berüchtigte Chef des Geheimdienstes der Luftwaffe, Dschamil Hassan, einem Anschlag zum Opfer gefallen sei. Er sei auf dem Damaszener Militärflughafen Messe schwer verletzt worden und habe in einem Krankenhaus in Moskau nicht mehr gerettet werden können. Im benachbarten Libanon wurden in der Stadt Tripoli bei nächtlichen Kämpfen zwischen Anhängern und Gegnern der syrischen Revolution drei Menschen getötet und mehr als 30 verletzt, wie Polizisten und Krankenhausärzte berichteten.