Egal, ob Karsai oder Abdullah Abdullah gewinnt: Die Taliban würden bei einem neuen Wahlgang die Angriffe verstärken.
Hamburg. Die Wahllokale hatten kaum geschlossen, da reklamierte Afghanistans Präsident Hamid Karsai den Sieg für sich. Und zwar mit absoluter Mehrheit gleich im ersten Anlauf. Acht Wochen ist das her. Und nun muss Karsai um seinen Wahlsieg zittern. Die "Washington Post" und die "New York Times" berichteten, dass nach einer Analyse der Wahlbeschwerdekommission (ECC) Karsai nur 47 oder 48 Prozent der Stimmen erhalten habe. Damit wäre eine Stichwahl zwischen Karsai und Ex-Außenminister Abdullah Abdullah notwendig.
"Es sieht alles danach aus, dass es eine neue Wahlrunde geben wird", sagte der afghanische Botschafter in den USA, Said Tajeb Dschawad, der "New York Times". Die von der Uno unterstützte ECC will ihr Ergebnis an diesem Sonnabend in Kabul veröffentlichen. Die Wahlkommission (IEC) muss danach ein entsprechend bereinigtes amtliches Endergebnis verkünden. Sie hat aber offen gelassen, wie viel Zeit sie sich dafür nehmen wird. Nach dem vorläufigen Ergebnis vom September gewann Karsai 54,6 Prozent der Stimmen, Abdullah kam auf knapp 28 Prozent.
Dass massiv betrogen worden ist, räumt sogar der Uno-Sondergesandte Kai Eide ein. Mindestens 1,2 Millionen Stimmzettel - das ist jede vierte Stimme - riechen nach Betrug. Die meisten der verdächtigen Stimmen waren von EU-Wahlbeobachtern Karsai angelastet worden. Die "Washington Post" berichtete, in Erwartung einer Neuwahl seien in London bereits neue Stimmzettel mit den Namen der Kontrahenten Karsai und Abdullah gedruckt und der Uno-Mission in Kabul übergeben worden.
Nach der afghanischen Verfassung muss die Stichwahl binnen zwei Wochen erfolgen. Dschawad sagte, dies sei kaum zu organisieren. Bald könne der Wintereinbruch eine Abstimmung unmöglich machen. Eine Verzögerung der Wahl bis zum Frühjahr sei allerdings "eine Katastrophe".
Seit zwei Monaten schon ist die Regierung in Kabul gelähmt und der Westen ohne verlässlichen Ansprechpartner. Eine Stichwahl könnte die Entscheidung von US-Präsident Barack Obama über eine weitere Aufstockung der US-Truppen weiter verzögern. Der Nato-Oberkommandierende in Afghanistan, US-General Stanley McChrystal, hatte kürzlich in einer schonungslosen Analyse vor einem Scheitern des Einsatzes am Hindukusch gewarnt. Die Taliban seien acht Jahre nach Beginn des Nato-Einsatzes militärisch auf dem Vormarsch. McChrystal, der insgesamt 100 000 Soldaten befehligt, hatte die Entsendung von 40 000 zusätzlichen Soldaten gefordert.
Danach sieht es kaum aus. Experten befürchten angesichts des politischen Vakuums in Kabul eine weitere Verschlechterung der Sicherheitslage. Als gesichert gilt zudem, dass die Taliban einen zweiten Wahlgang für eine neue Angriffswelle nutzen.
Auch die Bundeswehr im Norden des Landes verstärkt darum ihre Sicherheitsvorkehrungen. 35 deutsche Soldaten sind in Afghanistan bereits getötet worden - der Einsatz im deutschen Volk ist entsprechend unbeliebt. Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) nannte beim Besuch des Oberbefehlshabers des Nato-Kommandobereichs Europa, Admiral James Stavridis, jetzt zwar kein Datum für einen Truppenabzug, sprach aber von "absehbarer Zeit", in der dieses Ziel erreicht werden solle. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy erteilte Forderungen Großbritanniens nach einer Truppenaufstockung eine klare Absage. Italien erwägt einen frühzeitigen Abzug, und auch in den USA ist inzwischen die Mehrheit der Bürger gegen den Krieg.