Menschenrechtsaktivistin warnt: Die wahre Gefahr in Tunesien seien nicht Islamisten – sondern die Anhänger des gestürzten Diktators Ben Ali.

Sihem Bensedrine, 61, ist tunesische Journalistin und Bürgerrechtlerin. In ihrer Heimat wurde sie verfolgt, eingesperrt und gefoltert. Bensedrine musste vorübergehend ins Exil flüchten und erhielt von der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte ein Stipendium. Anfang 2011 kehrte sie nach Tunesien zurück. Dort leitet sie den Arabischen Arbeitskreis zur Beobachtung der Pressefreiheit und ist Sprecherin für den Nationalen Rat für Freiheiten in Tunesien. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat sie jetzt wegen ihres außergewöhnlichen Engagements für die Menschenrechte mit dem "Alison Des Forges"-Preis geehrt.

Hamburger Abendblatt: Frau Bensedrine, vor wenigen Tagen haben in Tunesien die ersten freien Wahlen stattgefunden. Ist Ihre Arbeit als Menschenrechtsaktivistin damit vorbei?

Sihem Bensedrine: Nein, sie muss ganz sicher weitergehen. Denn der Kopf des Regimes mag gefallen sein, aber nicht das ganze Regime. Seine Wurzeln müssen noch gezogen werden. Noch immer arbeitet die politische Polizei, noch immer verbreiten die Medien Fehlinformationen.Auch gegen mich fährt die politische Polizei immer noch Kampagnen. Unsere Aufgabe besteht darin, der tunesischen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und auf die Missstände hinzuweisen.

Sie haben als Oppositionelle lange für Demokratie gekämpft. Was ging in Ihnen vor, als Sie ihre Stimme abgegeben haben?

Für mich war das die Wahrwerdung eines Traums, ein beinahe heiliger Moment. Für uns Tunesier war diese ersten freien Wahlen ungeheuerwichtig. Sie haben uns zu echten Bürgern gemacht. Sie sind der erste Stein beim Aufbau unserer Demokratie gewesen.

Aus den Wahlen sind die Islamisten als stärkste Partei hervorgegangen. Bestätigen sich jetzt Befürchtungen, dass sich Tunesien und das restliche Nordafrika religiös radikalisiert?

Ich nehme das ganz anders wahr. Für mich stellen die Überreste des alten Regimes, die Mitglieder der alten Garde, eine viel größere Bedrohung dar. Sie kontrollieren immer noch wesentliche Teile des Staates und der Verwaltung. Der echte Konflikt verläuft nicht zwischen Islamisten und Nicht-Islamisten, sondern zwischen Anhängern des alten und des neuen Regimes. Die islamistisch orientierte Ennahda hat zwar die Wahlen, aber nicht die absolute Mehrheit gewonnen. Sie muss sich jetzt mit den anderen politischen Kräften auseinandersetzen, darunter zweiBewegungen, deren Anführern ich gut kenne und sehr schätze.

Handelt es sich denn bei den Islamisten um Demokraten?

Die Demokratie ist für die politische Klasse Tunesiens noch völlig neu – egal ob für Religiöse oder für Laizisten. Zwar haben demokratische Werte schon vorher eine große Rolle gespielt, aber uns allen fehlt einfachbislang die demokratische Praxis. Auch die Islamistenpartei, die Ennahda, hat noch nie regiert. Da können sich auch schon mal Ausrutscher ereignen. Aber wenn die Ennahda sich dem Rechtsstaat und den demokratischen Institutionen unterwirft, kann auch aus ihr eine demokratische Kraft werden.

Sie selbst sind Opfer des Regimes des inzwischen gestürzten Präsidenten Ben Ali gewesen. Man hat Sie verhaftet, geschlagen und Ihre Kinder bedroht. Könnte sich eine solche Verfolgung momentan wieder ereignen?

Ja, das könnte sie. Der Polizeiapparat muss dringend reformiert werden. Auch wenn Folterungen heute nicht mehr zum Alltag gehören wie früher. Aber es gibt sie noch. Und es gibt weiterhin willkürliche Festnahmen. Vor allem aber sind viele, die während der Revolution für das alte Regime gemordet haben, nie bestraft worden. Aber wir bleiben wachsam und werden weiterhin auf diese Missständeaufmerksam machen. Das fällt uns nicht leicht, denn es gibt noch immer keine freie Presse in Tunesien. Ben Ali hat alle wichtigen Posten mit seinen Leuten besetzt, und da befinden sie sich noch heute und blockieren eine pluralistische Medienlandschaft. Zum Beispiel hat der unabhängige Radiosender, den ich leite, noch immer keine Lizenz zum Betrieb in Tunesien erhalten.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich ihre Heimat zu einem „failed state“ entwickelt?

Ich bin sehr optimistisch was die Entwicklung meines Landes angeht. Bislang war es für uns Tunesier so, als befänden wir uns in einemTunnel – bloß ohne, dass ein Licht am Ende dieses Tunnels zu sehen gewesen wäre. Trotzdem haben wir weitergekämpft und gehofft, dass es besser wird. Und jetzt befinden wir uns plötzlich auf einer breiten Autobahn, auf der allesmöglich und die Zukunft ganz offen ist. Jetzt hängt alles von uns selbst ab.

Welche Rolle soll nun die EU für Nordafrika spielen?

Ich bin der Meinung, dass die EU eine große Mitverantwortung trägt für das Gelingen der jetzigen Übergangsphase. Aber sie muss zuallererst den Tunesiern vertrauen und sollte nicht versuchen, ihnen eigene Wünsche zu diktieren. Von Deutschland würde ich mir wünschen, dass es seinen Wissenschaftlern genügend Forschungsmittel zur Verfügung stellen würde, um die Verhältnisse vor Ort zu untersuchen. Auch wir, die Medien und Menschenrechtsorganisationen in Tunesien, könnten davon profitieren, wenn wir wüssten, wo beispielsweise noch die alte Garde aktiv ist. Aber wie ich aus Gesprächen mit Forschern weiß, stellt die deutsche Regierung dafür kaum Mittel bereit. Ich halte dieses deutsche Desinteresse an Tunesien für einen großen Fehler.

Aber die deutsche Regierung betont, dass sie den Ländern des arabischen Frühlings helfen wolle.

Ja, aber die europäischen Staaten setzen oft ihre Mittel völlig falsch ein. Wir brauchen keine Experten, die uns dabei helfen, unsere Verfassung zu schreiben. Und wir brauchen auch keine internationalen Rechtskonferenzen, bei denen kein Tunesier eingeladen ist. Wir brauchen mehr konkrete Hilfszusagen, mehr Investoren und mehr Touristen.

Welche Bedeutung könnte ein demokratisches Tunesien für andere nordafrikanische Länder wie Libyen erlangen?

Tunesien könnte ein Vorbild für Libyen werden. Ein Modell, von dem sich die Libyer inspirieren lassen und von dem sie lernen könnten. Doch in Libyen herrscht im Moment eine große Lethargie. Die Stämme werden nicht mehr zentral gesteuert. Jetzt kämpfen sie um Einfluss im Land und blockieren sich gegenseitig. Erst wenn man sie entwaffnet und wieder eine funktionierende Zentralregierung installiert, kann es dort weitergehen und ein Rechtsstaat installiert werden.

Der Nationale Übergangsrat in Libyen hat verkündet, dass die islamische Scharia als Rechtssystem eingeführt werden soll. Machen Sie sich jetzt Sorgen um die Menschen- und insbesondere um die Frauenrechte in Irhem Nachbarland?

Solange viele Männer in einem Land viele Waffen tragen, leiden automatisch die Rechte der Frauen darunter. Möglicherweise will derÜbergangsrat die Scharia einrichten, um wieder einen einheitlichen libyschen Staat aufzubauen. Und nur ein Zentralstaat kann die Rechte der Frauen schützen.

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