Die Hamas könnte nach dem Gefangenenaustausch von Gilad Schalit noch gewalttätiger werden.
Jerusalem/Tel Aviv/Mizpe Hila. Der Austausch von mehr als 1000 palästinensischen Gefangenen für einen einzigen israelischen Soldaten sorgt im Nahen Osten vor allem bei den Kräften für Jubel, die Gewalt gegen Israel als richtiges Mittel ansehen. Der eher moderate Palästinenserpräsident Mahmud Abbas steht deswegen unter Druck, seine Glaubwürdigkeit zu untermauern. Dies treibt ihn möglicherweise dazu, seinen Einsatz für eine UN-Mitgliedschaft der Palästinenser eskalieren zu lassen. Dagegen erlaubt der ungleiche Austausch der radikalislamischen Hamas, sich eine Weile auf den Lorbeeren auszuruhen.
Im Austausch für den heute 25-jährigen Gilad Schalit sollen insgesamt mehr als 1000 inhaftierte Palästinenser freikommen. Nach Angaben der Hamas wurden 300 von ihnen wegen Gewalttaten zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Zahl der freikommenden Gefangenen verdeutlicht, welche Zugeständnisse Israel macht: Im Jahr 2008 tauschten die Israelis noch fünf Libanesen gegen die Leichname von zwei israelischen Soldaten ein. Die Gegner von Abbas jubeln nun: Das Tauschgeschäft sei viel mehr als Abbas in seinen jahrelangen Verhandlungen mit Israel über die Gründung eines palästinensischen Staates erreicht habe.
Selbst Abbas' Verbündete befürchten, dass der bewaffnete Kampf gegen Israel wieder in den Vordergrund tritt – auf Kosten der gewaltfreien Strategie mit Verhandlungen und dem diplomatischen Vorstoß für eine breitere Anerkennung eines Palästinenserstaates. „Dieses Abkommen hat die öffentliche Position der Hamas und die Wahrnehmung des Widerstands eindeutig verbessert“, sagte ein Mitglied der Abbas-Verwaltung. „Der Erfolg dieses Austausches sendet die falsche Botschaft an die Öffentlichkeit.“
Die Friedensgespräche mit Israel sind in einer Sackgasse. Unterdessen werden jüdische Siedlungen im Westjordanland immer weiter auf Gebieten gebaut, die die Palästinenser als entscheidend für einen eigenen überlebensfähigen Staat ansehen. Applaus für das Tauschgeschäft kam auch von der im Libanon mitregierenden radikalislamischen Hisbollah: Der Austausch widerlege die „Wahnvorstellung“ derer, die an Fortschritte durch Verhandlungen oder Bittschriften glaubten.
Das ist ein klarer Bezug auf den Antrag Abbas' bei den UN. Nach seiner Darstellung wollte er damit die Stellung der Palästinenser vor weiteren Gesprächen mit Israel stärken.
Abbas' Vorstoß wurde zwar unter Palästinensern bejubelt. Doch ihre wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zunächst deutlich: So stoppten die USA ihre Finanzhilfen, die die palästinensische Wirtschaft in den vergangenen Jahren über Wasser hielten. „Abbas machte den friedlichsten Schritt, den man sich vorstellen kann: Er ging zu den Vereinten Nationen. Und er bekam trotzdem diese brutale politische Antwort von Israel und den USA“, kritisierte das Mitglied der palästinensischen Verwaltung weiter. Auch so erscheine ein friedlicher Ansatz in einem negativen Licht.
Schalit: Der scheue und tapfere Soldat
Der am Dienstag nach 1941 Tagen Geiselhaft im Gazastreifen freigelassene israelische Soldat Gilad Schalit (25) wirkt scheu und blass, fast zerbrechlich. Aber er muss auch tapfer und zäh sein, sonst hätte er die Jahre der Ungewissheit wohl kaum überstanden. Auf Fragen des ägyptischen Fernsehens, ob er sich nun für die Freilassung der mehr als 4000 palästinensischen Häftlinge einsetzen werde, antwortete er geschickt: „Sicher würde ich mich freuen, wenn sie freikommen und den bewaffneten Kampf nicht wiederaufnehmen.“
Ein palästinensisches Kommando hatte den heute 25-Jährigen am 25. Juni 2006 von israelischem Boden in den Gazastreifen verschleppt. Menschen, die Schalit bis zu seiner Entführung nahe standen, beschreiben ihn als eher unauffälligen und bescheidenen Menschen. Er liebe Bücher und interessiere sich vor allem für Mathematik und Physik, berichten Angehörige. „Ich glaube nicht, dass er nach der Heimkehr viel sprechen wird. Er war schon vor der Entführung ein stiller Junge“, sagte die Nachbarin der Schalits in deren Heimatort Mizpe Hila, Eva Drori.
Schalit hat eine jüngere Schwester und einen älteren Bruder. Seine Mutter Aviva leistete ehrenamtliche Arbeit für den Umweltschutz. Sein Vater Noam Schalit stammt aus Frankreich, weshalb Gilad neben der israelischen auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt.
Der bei der Entführung erst 19-Jährige hatte seinen Militärdienst 2005 begonnen und wurde in eine Panzerabteilung versetzt. Zuvor hatte er sein Abitur mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt an einer Oberschule in einem Kibbuz in Galiläa absolviert. „Gilad ist ein wunderbarer Junge, ruhig, ein bisschen verschlossen und freundlich zu allen“, erzählte eine Freundin der Familie.
Die Familie des Soldaten lebt in einer malerischen Ortschaft mit nur wenigen hundert Einwohnern im Norden des Landes. Seit dem vergangenen Jahr verbrachten die Eltern dann aber viel Zeit in einem Protestzelt, das sie vor dem Amtssitz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem aufgeschlagen hatten.
Über die Bedingungen, unter denen Schalit seit mehr als fünf Jahren festgehalten wird, wurde auch unmittelbar nach der Freilassung nichts bekannt. Die im Gazastreifen regierende radikalislamische Hamas gestattete keine Besuche, auch nicht von Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK).
Hunderttausende Israelis hatten sich mit dem Entführten und seiner Familie solidarisch erklärt. Immer wieder forderten sie die Regierung auf, sich auf einen Austausch palästinensischer Häftlinge gegen Schalit einzulassen.