Führung der Palästinenser spricht von “Kriegserklärung“. Herbe Kritik aber auch von Konservativen in Israels Koalition und Parlament.
Hamburg. Die sonst eher zu bedächtigen Urteilen neigende "Neue Zürcher Zeitung" sprach erregt von "selten erlebter Dreistigkeit" und von einer "offenen Kampfansage". Es ging um die Rede des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses. Wohl selten zuvor hat eine Ansprache eines israelischen Premiers bei Gegnern wie Verbündeten und selbst im eigenen Parlament derart vehemente Reaktionen hervorgerufen.
Zwischen Netanjahu und US-Präsident Barack Obama herrscht Eiszeit - vor allem, seitdem der Präsident jüngst einen Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 gefordert hatte. Wütend darüber, ist Netanjahu allerdings vollkommen klar, dass auch die Europäer auf Obamas Seite stehen. In seiner Gegenrede in Washington zeigte sich der brillante Rhetoriker daher zu "schmerzhaften Kompromissen" bereit. Bei näherem Hinsehen ging es dabei allerdings nur um eine Handvoll kleinerer jüdischer Siedlungen im Westjordanland, die er zu opfern bereit sei. Doch weder ein Israel in den Grenzen von 1967 noch ein Siedlungsstopp in den besetzten Gebieten - Hauptforderung der Palästinenser für eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses -, noch ein Rückbau der Großsiedlungen kommt für ihn infrage. Auch müsse das Jordan-Tal langfristig unter Kontrolle des israelischen Militärs bleiben. Dafür könne man sich großzügig bezüglich der Grenzen des künftigen Palästinenserstaates erweisen - den er nunmehr akzeptiere.
Kühl ließ Palästinenserpräsident Mahmud Abbas erklären, Netanjahu türme nur noch mehr Hindernisse im Friedensprozess auf. Niemals werde sein Volk eine militärische Präsenz auf seinem Gebiet gestatten, schon gar nicht am Jordan. Abbas' Berater Nabil Schaath nannte es eine "Kriegserklärung" an die Palästinenser, dass Netanjahu Gebiete behalten wolle, die zu dem von ihnen angestrebten Staat gehören sollten. Die im Gazastreifen herrschende radikalislamische Hamas forderte, alle Verträge mit Israel zu zerreißen.
Dem rechten Likud-Block in Jerusalem allerdings gingen die mageren Zugeständnisse ihres Regierungschefs bereits zu weit. Der Abgeordnete Danny Danon sagte dem Armeesender: "Wir sind gewählt worden, um unser Land zu bewahren - nicht, um es zu übergeben." Michael Ben-Ari von der ultrarechten Oppositionspartei Nationale Union nannte Netanjahu im Siedlerfunk gar einen "palästinensischen Herzl". Der jüdische Österreicher Theodor Herzl (1860-1904), Begründer des politischen Zionismus, gilt als geistiger Wegbereiter des Staates Israel. Und Yoel Hasson von der liberalkonservativen Kadima-Partei sagte, Netanjahus Rede habe den "falschen Eindruck" erwecken wollen, dass er bereit zu Verhandlungen sei.
Nach den Washingtoner Reden von Obama und Netanjahu scheint eine rasche Friedenslösung derzeit unwahrscheinlicher als zuvor. Obama steht vor dem totalen Scheitern seiner Nahost-Politik - im September will sich Mahmud Abbas aus Frust über Israels hartleibige Haltung einen einseitig ausgerufenen Palästinenserstaat von der Uno-Vollversammlung in New York absegnen lassen. Dies allerdings könnte den Konflikt bis hin zu offenen Kampfhandlungen weiter anheizen. Obama hat sich verrechnet, als er den unter innenpolitischem Druck stehenden Hardliner Netanjahu zu echten Zugeständnissen drängen wollte, die einen Durchbruch ermöglicht hätten.
Die umstrittenen Gebiete Westjordanland und Golanhöhen hatte Israel im Juni 1967 erobert, als sich Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und der Irak zum Angriff anschickten, um, wie es der irakische Präsident Abdur Rahman Aref formulierte, "den Fehler der Existenz Israels zu korrigieren". In den Grenzen von 1949 hätte Israel keine strategische Tiefe mehr für raumgreifende Verteidigungsoperationen. Bereits wenige Tage nach dem Sechs-Tage-Krieg hatten die Vereinigten Stabschefs der USA Verteidigungsminister Robert McNamara eine Analyse vorgelegt, nach der Israel einige der eroberten Gebiete unbedingt behalten müsse, "um über militärisch verteidigungsfähige Grenzen zu verfügen".
Im Südwesten und Südosten ist Israel zwar vor Großoffensiven durch unwegsame Wüstengebiete geschützt. Doch eine strategische Achillesferse liegt in der Mitte Israels, wo das Land ohne die besetzte Westbank nur 15 Kilometer breit ist. Genau dort hatten die arabischen Armeen damals Israel in zwei Teile schneiden wollen. Die größte Gefahr droht Israel allerdings im Norden und Nordwesten: sowohl vom Libanon, in dem die israelfeindliche Hisbollah die stärkste politische Kraft ist, als auch von Syrien aus. 1967 hatte Israel die syrischen Golanhöhen erobert und 1981 annektiert, um syrische Artillerieattacken von dort zu verhindern.