Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas will sein Land am Freitag einseitig von der Uno anerkennen lassen - die Sorgen wachsen.
Hamburg. Es ist ein Begriff aus dem Wörterbuch des Unmenschen und stammt aus den dunkelsten Zeiten Europas. Dass der israelische Außenminister Avigdor Lieberman jetzt das deutsche Wort "judenrein" in den Mund nahm, ist Indiz für die enorme Erbitterung, mit der gegenwärtig im Nahen Osten um die geplante Ausrufung eines Palästinenserstaates gerungen wird. Der Botschafter der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Maen Rashid Areikat, hatte am Mittwoch in den USA gesagt, die erste Maßnahme nach der Einrichtung eines palästinensischen Staates werde die Trennung von Juden und Arabern sein. "Die palästinensische Verwaltung hat damit das deutsche 'Judenrein-Konzept' übernommen", polterte Lieberman. In der NS-Zeit galten Gebiete als "judenrein", deren jüdische Bewohner vertrieben oder ermordet worden waren.
Der gesamte Nahe Osten steht möglicherweise am Rande tief greifender Erschütterungen, deren Konsequenzen noch gar nicht absehbar sind. Am Freitag kommender Woche will Palästinenserpräsident Mahmud Abbas auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Vollmitgliedschaft Palästinas als 194. Staat beantragen. Die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit von 129 Staaten würden die Palästinenser im Plenum offenbar leicht erreichen. Allerdings ist für ein solches Votum eine Empfehlung des Sicherheitsrates erforderlich - und die USA haben bereits ihr Veto angekündigt. Dies aber würde die Vereinigten Staaten in eine Frontalopposition mit der arabischen Welt bringen - ausgerechnet in einer hochsensiblen Phase der Umwälzung und Neuorientierung in der Region.
In diesen Tagen laufen die diplomatischen Apparate daher auf Hochtouren. Alternativen werden erwogen, Drohungen schwirren durch die Luft. So wird die Option ventiliert, die Palästinenser könnten vom jetzigen Stand bloßer Beobachter in der Uno auf einen Status knapp unterhalb eines Staates befördert werden. Der Vatikan zum Beispiel ist ein solcher "non-member-state". Die britische EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton schlug überdies vor, die Palästinenser könnten einen völlig neuen Status erhalten, den es bislang in der Uno nicht gibt. Hintergrund: Der Status eines Staates würde es den Palästinensern erlauben, Israel vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu verklagen. Jerusalem will dies partout vermeiden und droht bereits mit der Kündigung aller Abkommen mit den Palästinensern. Auf dem Spiel steht dabei Wirtschaftshilfe in Höhe von umgerechnet bis zu einer Milliarde Euro, zu der Israel durch das Oslo-Abkommen von 1993 verpflichtet ist. Dieses Geld macht den Großteil des palästinensischen Budgets aus. Auch die USA drohen damit, den Palästinensern die substanzielle amerikanische Unterstützung zu entziehen, falls sie auf der Ausrufung ihres Staates bestünden. Ohne diese israelischen und amerikanischen Gelder jedoch würde die palästinensische Verwaltung rasch zusammenbrechen, Chaos und Aufstände wären die wahrscheinliche Folge. Aber auch für den Fall der Ausrufung des Staates wird mit Kundgebungen in der ganzen arabischen Welt gerechnet. Die USA und Großbritannien üben erheblichen Druck auf die EU aus, sich gegen die einseitige Proklamation eines Palästinenserstaates zu stemmen.
Auch für die Bundesrepublik ist die politische Gemengelage sehr heikel. Zwar votiert Berlin grundsätzlich für eine Zwei-Staaten-Lösung in Nahost, lehnt aber die einseitige Ausrufung eines Palästinenserstaates ab - hier greift die besondere historische Verantwortung für Israel. Doch auch Deutschland würde mit einer Ablehnung des palästinensischen Staates in der Uno den Zorn der arabischen Welt auf sich ziehen - mit der man Handel treiben will.
Palästinenserpräsiden Abbas sieht indessen keine Alternative mehr; er wirft der Regierung von Benjamin Netanjahu vor, sie lehne jegliche Zugeständnisse ab und habe den Friedensprozess scheitern lassen. In der Tat hat die beinharte, ausschließlich auf israelische Sicherheitsinteressen ausgerichtete Politik von Netanjahu Jerusalem fast vollständig in der Welt isoliert. Zwar steht Barack Obama noch zähneknirschend an der Seite des israelischen Premiers - doch die beiden Führer können sich nicht ausstehen, zudem ist der Einfluss der USA auf die Uno dramatisch gesunken.
Obama hatte sich im Mai den Zorn der israelischen Regierung zugezogen, als er ein Israel in den Grenzen von 1967 - also vor der Besetzung arabischer Gebiete - forderte. Netanjahus hartleibige Weigerung, die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten aufzugeben, hat wiederum Obama zutiefst enttäuscht. Doch auch für die Palästinenser birgt ein Staat Gefahren: Dann nämlich verlören die rund vier Millionen palästinensischen Flüchtlinge endgültig das Rückkehrrecht nach Israel.