Einen Monat nach dem Sturz Ben Alis bleibt die Lage gespannt. Die neue Regierung verspricht Demokratie und will Geld aus dem Westen sehen
Tunis. Auf der Avenue Habib Bourguiba schlägt das Herz von Tunis. Die Freiluftcafés haben geöffnet, um die voll besetzten Tische schlängeln sich die Passanten. Auch hier gibt es so etwas wie Winterschlussverkauf. Benetton reduziert seine Ware bis zu 70 Prozent, ist an den Schaufenstern zu lesen. Nichts deutet darauf hin, dass auf diesem Boulevard vor einem Monat die arabische Revolution ihren Lauf nahm. Diese Seite der Avenue Habib Bourguiba könnte man auch mit Einkaufsmeilen in Lissabon oder Marseille verwechseln.
Auf der anderen Seite der Prachtstraße aber zeigt sich, dass die Tunesier noch im Ausnahmezustand leben. Hinter Stacheldraht sitzen Soldaten auf Panzern, um das gegenüberliegende Innenministerium zu bewachen. Scheinbar regungslos betrachten sie das geschäftige Treiben, das sich keine zehn Meter vor ihnen abspielt.
Wer dachte, nach der Flucht des ehemaligen Präsidenten Ben Ali habe sich die Lage in dem Land normalisiert, bekommt an diesem Ort vor Augen geführt, wie zerbrechlich die gegenwärtige Ruhe ist. Die Politik steht unter Druck. Unter den Unruhen hat die Wirtschaft gelitten, Touristen meiden das Land, und das Zehn-Millionen-Volk drängt weiter auf rasche Reformen.
Die Übergangsregierung von Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi hat bereits gehandelt und die Zensur gelockert, die Todesstrafe abgeschafft und die Anti-Folter-Konvention gebilligt. Es sollen freie Wahlen folgen und mit ihnen eine Demokratie, die ihren Namen verdient. So stellt es sich Regierungschef Ghannouchi vor. Doch der Einfluss des alten Regimes ist noch da, im Landesinnern stärker als in der tunesischen Hauptstadt. Einige lokale Machthaber aus der Ben-Ali-Ära haben sich gehalten. In manchen Regionen gab es zuletzt noch gewaltsame Proteste - und wieder Tote. In Tunis ist es trotz einzelner Demonstrationen derzeit ruhig.
"Es läuft nicht so gut, wie wir dachten", sagt ein kleiner bärtiger Mann. Er ist in die Rue Habib Bourguiba gekommen, um in der Sonne einen Kaffee zu trinken. Er stellt sich als Messaoudi Jamel vor, 50 Jahre alt, ein Kaufmann, der mit Plastikwaren handelt. "Die meisten wissen nicht, wie Revolution geht", beschwert er sich über seine Landsleute. Er spricht Deutsch. Als junger Mann hat er einige Jahre in Wien gearbeitet. Was er sagt, macht stutzig. Waren es nicht die mutigen Menschen in Tunesien, die eine Freiheitsbewegung in Gang gesetzt haben, die sogar Ägypten erreichte? Herr Jamel ist trotzdem unzufrieden. Ihm geht es nicht schnell genug in seinem Land. Und er ist überzeugt, die Tunesier sind selbst schuld daran. "Die Leute wollen mehr Rechte, mehr Geld, aber sie wissen nicht, dass sie dafür jetzt weiterkämpfen müssen", sagt er. Im Januar sei er "natürlich" auf die Straße gegangen, um Ben Ali zu vertreiben. Trotz der Schüsse des Militärs, trotz des Tränengases, trotz der Angst, dabei sterben zu können. Herr Jamel glaubt zu wissen, wie Revolution geht. Er würde jetzt am liebsten wieder demonstrieren.
Im Regierungspalast Ben Alis vor den Toren von Tunis tut Ministerpräsident Ghannouchi alles dafür, neuen Aufruhr zu vermeiden. Der 69-Jährige gehörte selbst zum System Ben Alis, doch die Tunesier respektieren ihn, solange er glaubhaft den Wandel verkörpert. Bislang gelingt es ihm. Als Außenminister Guido Westerwelle (FDP) am Sonnabend Ghannouchi besuchte, versprach der Ministerpräsident, er habe die Absicht, "in Tunesien die Demokratie zu verwirklichen". Aber "um unser Ziel zu erreichen, müssen wir ziemlich viele Probleme schnell lösen". Das größte Problem ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die bei 30 Prozent liegt.
Was das Land stabilisieren könnte, wäre ein beispielloser Wirtschaftsaufschwung. Nur wird es den so schnell nicht geben. Aber der Westen könnte dabei nachhelfen, so hofft man in der tunesischen Regierung. Westerwelle kündigte in Tunis zumindest an, in der EU darüber reden zu wollen, wie Produkte aus Tunesien leichter den Weg in europäische Märkte finden. Auch auf dem Energiesektor wünscht er sich mehr Kooperation mit Europa. Die Bundesregierung selbst gibt in einem ersten Schritt drei Millionen Euro für einen "Demokratieförderfonds" und 500 000 Euro für den Jugendaustausch. Auch beim Aufbau einer unabhängigen Justiz kann man sich Fördermaßnahmen vorstellen. An Entwicklungshilfe waren ohnehin schon 37,5 Millionen Euro geplant. Im Gegenzug setzen die Deutschen darauf, dass Tunesien zum demokratischen Vorbild für den Rest der arabischen Welt wird. Von einem "Musterbeispiel", das das nordafrikanische Land eines Tages abgeben soll, sprach der Außenminister.
Ministerpräsident Ghannouchi treiben noch ganz andere Sorgen um. Jeder Tag, der friedlich bleibt, ist momentan ein gewonnener Tag. Am Sonnabend sagte er ziemlich deutlich, was das Land jetzt vor allem zur Stabilisierung braucht: Geld, viel mehr Geld. Im März will die tunesische Übergangsregierung daher eine Art Geberkonferenz veranstalten, um weltweit finanzielle Hilfen einzuholen.
Die 270 deutschen Unternehmen, die in Tunesien angesiedelt sind, müssen dagegen selbstständig gegen die Flaute ankämpfen. "Die deutschen Handelspartner sind verunsichert", klagt Dagmar Ossenbrink. Seit neun Jahren lebt die Deutsche in Tunis, sie ist Geschäftsführerin der deutsch-tunesischen Handelskammer. Dieses zehnte Jahr hat alles verändert. "Die Geschäftspartner denken, hier kommt alles zum Erliegen", sagt sie. Dabei sei doch alles wieder normal, der Warenaustausch funktioniere wie immer, nur "so unterdrückt ruhig wie früher" werde es hier nie wieder sein. Ossenbrink lächelt bei dem Satz. Sie ist in die Deutsche Botschaft gekommen, um gegenüber Journalisten den Optimismus zu verbreiten, den sie bei den Geschäftspartnern in Deutschland vermisst.
Die Geschäfte zwischen beiden Ländern waren bis zu den Unruhen stets stabil. Deutschland ist auf EU-Seite der drittgrößte Handelspartner und Investor Tunesiens hinter Frankreich und Italien. Rund 48 000 Tunesier arbeiten in deutschen Firmen, überwiegend im Textilbereich und der Elektrotechnik. Man ist stolz darauf, dass jeder siebte Kabelbaum in einem deutschen Auto aus Tunesien stammt. Ossenbrink sagt, dass ein Demokratisierungsprozess dem Handel mit Deutschland nur guttun würde. "Natürlich geht es uns jetzt um den Ausbau der Geschäfte."
Aber noch ist es Februar, noch ist die Revolution erst einen Monat alt. Und zur Demokratie ist es ein weiter Weg. Tunesien hat noch nicht einmal einen offiziellen Termin für die ersten freien Wahlen seit 23 Jahren.