Barack Obama, der erste schwarze Präsident der USA, ruft seine Landsleute auf, gemeinsam der Krise zu begegnen. Jedem Mann und jeder Frau auf der Welt mit friedlichen Absichten wolle Amerika die Hand reichen. Er sprach für alle Amerikaner - als einer von ihnen.
Washington. Barack Hussein Obama trat mit einem hoch konzentrierten Gesichtsausdruck hinaus auf das Podium vor dem Parlament. Vor ihm standen, so weit das Auge reichte, die Wähler, die eine neue Seite im Geschichtsbuch aufgeschlagen haben. Wer nicht in Washington vor dem Kapitol stand, saß vor dem Fernseher. Dienstag, der 20. Januar, war Amerikas 9. November, der Mauerfall, "The Moment". Die Sekunde, in der Barack Obama am Kapitol die Hand zum Amtseid hob, galt in den USA als Zeigersprung für die Geschichte, ein Augenblick, an dem 36,1 Millionen schwarze Bürger endgültig zu Amerikanern wurden - nicht mehr und nicht weniger. Millionen, vom Kleinkind bis zu mehreren Hundertjährigen, hatten sich auf den Weg nach Washington gemacht, um "den Augenblick" mit eigenen Augen zu sehen. Geschichte vergeht ja nicht mit einem Federstrich, wie es die Abschaffung der Sklaverei 1865 und die Gewährung der vollen Bürgerrechte 100 Jahre später durch zwei weiße Präsidenten suggeriert.
Der Augenblick vollzog sich gestern um 12.05 Washingtoner Zeit, nach Aretha Franklins "My country, t'is of thee// sweet land of liberty" und nachdenklichen Weisen eines Weltklasse-Klarinettenquartetts, mit der Hand auf Abraham Lincolns Bibel: "Ich, Barack Hussein Obama, schwöre diesen feierlichen Eid, dass ich das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich ausüben und nach meinem besten Vermögen die Verfassung der Vereinigten Staaten schützen, bewahren und verteidigen werde, so wahr mir Gott helfe." Eine Militärkapelle stimmte "Hail to the Chief" an, die Erkennungsfanfare des US-Oberkommandierenden. Für ihn, und mit ihm für alle Schwarzen, hallte der Kanonensalut über die Mall. Obama ist der 44. Präsident der Vereinigten Staaten.
Er hielt eine Schweiß-und-Tränen-Rede. "Ich stehe hier demütig im Angesicht der vor uns liegenden Aufgaben - dankbar für euer Vertrauen und der Opfer unserer Vorfahren bewusst." Amtseide seien in Zeiten des Wohlstands geleistet worden, aber oft auch während Stürmen der Zeit. Amerika habe sie dank seiner Ideale gemeistert. "Jeder weiß jetzt, dass wir in einer Krise leben. Wir stehen im Krieg gegen ein Netzwerk aus Hass und Gewalt. Unsere Wirtschaft hat schwer gelitten, teils wegen der Gier einiger weniger, aber auch wegen unseres kollektiven Versagens, klare Zukunftsentscheidungen zu treffen." An diesem Tag aber "stehen wir hier, weil wir Hoffnung über die Angst stellen und die zielbewusste Einheit über Konflikt und Zwiespalt." Es war eine Absage an die Erwartung, Obama werde die Ära Bush unter die juristische Lupe nehmen lassen.
Um ein Uhr mittags hob der Hubschrauber mit George W. Bush vom Kapitol zur Luftwaffenbasis Andrews ab. Bush hat das einem Präsidenten zustehende Gnadenrecht nicht, wie von linken Aktivisten gemutmaßt, dafür genutzt, schnell noch alle CIA-Verhörer oder den verurteilten früheren Stabschef seines Vizepräsidenten Dick Cheney, Lewis "Scooter" Libby, zu begnadigen. Er hob nur die acht Jahre Resthaft für zwei Polizisten auf, die an der mexikanischen Grenze einen Mord an zwei Drogenkurieren vertuschen wollten, einen Mord, den sie nicht begangen hatten. Bush ließ keinen Zweifel daran, dass die Polizisten zu Recht verurteilt worden waren. Aber das Strafmaß, zehn Jahre, hatten auch Demokraten missbilligt.
Obama hatte seinem Stab befohlen, sich um halb drei nachmittags im Weißen Haus einzufinden. Da machte der Präsident sich selber gerade unter einem prachtvollen Winterhimmel auf den Weg in die Pennsylvania Avenue hinunter zu seinem neuen Amtssitz. Der Stab bereitete den Hundert-Tage-Sturm vor, mit dem Obama seine Regierungszeit einleitet. Heute, nach einem Dankgottesdienst in der National Cathedral und einem Empfang für tausend Bürger, trifft er sich als Erstes mit seinen militärischen Befehlshabern. Der Abzug aus dem Irak soll in eine Direktive umgesetzt werden.
Dann wird auch Verteidigungsminister Robert Gates wieder in Washington sein. Er hatte gestern die Aufgabe, weit von der Hauptstadt entfernt in einem Bunker für den Fall der Fälle die Handlungsfähigkeit der USA sicherzustellen.
Es gab am Vorabend noch eine politische Überraschung, als Jill Biden, die Frau des Vizepräsidenten Joe Biden, in einer Talkshow verriet, Barack Obama habe ihrem Mann die Wahl zwischen Außenminister und Vizepräsident gelassen. Biden habe sich für Letzteres entschieden, um seine Familie öfter sehen zu können. Wäre also Hillary Clinton um ein Haar doch Obamas Stellvertreterin geworden? Damit werden sich die Medien ab heute beschäftigen. Gestern aber galt: Obamas Rede kodifizierte den historischen "Augenblick" für die Geschichtsbücher. Ein Schwarzer will Amerika sanieren. Obama sprach für alle Amerikaner als einer von ihnen im höchsten Amt, er hat sich dieses Privileg auf Augenhöhe erkämpft, von Gleich zu Gleich, ohne Quote, ohne Schulterklopfen und ohne den Gönnerblick liberaler weißer Förderer. Es war der Schritt von der Gleichberechtigung zur endgültig so empfundenen Gleichwertigkeit.
Schwarze Amerikaner, schrieb ein schwarzer Professor dieser Tage, lebten bisher in einer Welt, in der man "für die simpelsten Alltagsmeriten mit verlogenem Lob überschüttet wird". Schwarze wurden "an Autodieben gemessen". Gestern ist das alles zu Ende gegangen. Schwarze Beschwingtheit, graue Flugzeugträger und weiße Friedenstauben gehören ab jetzt zusammen. Oder, so viel Pathos darf an einem solchen Tag doch sein: Eine Supermacht hat in den Spiegel geblickt und beschlossen, zu zeigen, dass nichts so mächtig ist wie Gutes, das mit dem Stimmzettel ihrer Bürger Wahrheit und Wirklichkeit wird.