Der Premier ist der große Verlierer der Unterhauswahlen. Tories wollen mit Liberaldemokraten verhandeln.
London. Eine historische Stunde bahnt sich auf der Britischen Insel an: Die Unterhauswahl vom 6. Mai endete so, wie viele es vorausgesagt hatten - als "hung parliament", eine Situation also, in der keine der beiden großen Parteien, weder Labour noch die Konservativen, die absolute Mehrheit der Stimmen gewinnen konnte. Die Einparteienregierung, das Muster der britischen Nachkriegsgeschichte, bleibt daher diesmal ausgeschlossen. Stattdessen müssen sich die Briten möglicherweise mit einer Koalition anfreunden, zumindest aber mit einer Minderheitsregierung.
Der große Verlierer der Wahl heißt Gordon Brown. Der Premierminister verlor gleich auf zwei Ebenen, und zwar deutlich: Mehr als zwei Millionen Wähler gingen seiner Partei verloren, ihr Anteil an allen abgegebenen Stimmen beträgt nur noch 29 Prozent. Auch im Unterhaus scheiterte New Labour, verlor mehr als 100 seiner Abgeordneten (siehe Grafik) und kommt nur noch auf 258 Sitze. Die Tories ihrerseits kamen als stärkste Partei durchs Ziel, wenn auch mit 306 Sitzen um 20 Mandate unterhalb der absoluten Mehrheit. Die Liberaldemokraten kamen überraschend nur auf 57 Sitze.
Der große Vorsprung der Tories im Stimmenanteil und bei der Sitzverteilung im Unterhaus kann nur bedeuten, dass dem Chef der Konservativen, David Cameron, der Anspruch auf das Regierungsamt nicht zu nehmen ist. So sah es am Freitag auch der Anführer der Liberaldemokraten, Nick Clegg. Er erinnerte an seine Aussage vor der Wahl, dass die Partei mit den meisten Stimmen und den meisten Abgeordneten den Vortritt haben müsse bei der Regierungsbildung. "Es liegt jetzt an den Konservativen, zu beweisen, dass sie in der Lage sind, im nationalen Interesse zu regieren", sagte Clegg.
Diese pragmatische Auslegung des Wahlergebnisses widerspricht allerdings der Verfassungstradition, wonach als Erster der Amtsinhaber den Versuch machen darf, eine Regierungsmehrheit zustande zu bringen, die "das Vertrauen des Unterhauses" besitzt. Eine Mehrheit kann es im Lichte des Wahlausgangs aber nur noch mithilfe einer Koalition geben - in welcher Gestalt auch immer. Erst wenn es Brown nicht gelingt, eine solche Allianz zu schmieden, muss er zurücktreten und den Weg für Cameron frei machen.
Im ersten Erschrecken über sein schlechtes Abschneiden hatte Brown sich in der Wahlnacht an den rettenden Strohhalm einer Koalition mit den Liberaldemokraten geklammert als die beste Möglichkeit, dennoch regierungsfähig zu bleiben. "Mein Dienst an diesem Land", führte er verklausuliert, aber deutlich genug aus, "der sich aus dieser Wahl ergibt, ist es, meinen Part bei der Bildung einer starken, stabilen und prinzipientreuen Regierung für Großbritannien zu spielen."
Aber gestern wurde bald klar, dass die Zahlen von Labour und Liberaldemokraten sich nicht zu der nötigen Mehrheit von 326 Sitzen addieren würden. Es sei denn, der Premierminister wäre bereit, sein Koalitionsangebot auch Randparteien aus Schottland und Wales zu machen, um doch noch eine Mehrheit zustande zu bringen. Doch jedermann weiß: Je größer die Parteienvielfalt in einer Koalition, desto weniger "stark, stabil und prinzipientreu" wird das Resultat ausfallen. Das wäre nicht nur für Großbritannien und seine Wirtschaft fatal, es müsste auch das Ansehen der Labour-Partei vollständig ruinieren, die sich zu Mehrheitsverhältnissen herabgelassen hätte, die dem britischen Empfinden von politischer Entschiedenheit zuwiderlaufen. Daher lenkte Brown bereits ein, indem er Cameron den Vortritt in den Gesprächen mit den Liberalen überließ.
Daher kann es nicht mehr lange dauern, ehe Brown das Handtuch wirft, erst recht nicht nach der Äußerung von Clegg, der mit seinem Ja zum Anspruch Camerons indirekt auch seinen Widerwillen kundtat, mit New Labour unter einer Figur wie Brown überhaupt zu verhandeln. Cleggs Beharren auf seiner vor der Wahl abgegebenen Einschätzung brachte ihm gestern größte Hochachtung ein. Er hätte auch weniger generös reagieren können, aus Enttäuschung über das schlechte Abschneiden seiner Partei: Der große Zulauf, dessen sich Clegg vor allem aufgrund seines guten Abschneidens bei den Fernsehdebatten erfreute, hat sich nicht in Zugewinn an Sitzen ummünzen lassen.
Im Gegenteil: Die Liberaldemokraten, mit bisher 62 Abgeordneten, hatten nur 57 davon zurückgewinnen können. Für eine Partei, die 23 Prozent der landesweit abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnte, ist dies eine herbe Enttäuschung und eine erneute Bestätigung dafür, wie hoch die Hürde ist, die das britische Direktwahlsystem der dritten Partei in den Weg stellt.
Die Gespräche, die Clegg jetzt mit den Tories führen wird, dürften sich daher vor allem auch um diese für die Liberalen zentrale Frage drehen: Wird unsere Forderung nach einer Änderung des bestehenden Wahlrechts respektiert? Vor der Wahl hatte Cameron jede Einwilligung zu einer Wahlrechtsänderung abgelehnt, nur die Labour-Partei stand diesem Gedanken positiv gegenüber. Da jetzt für Clegg die Option Brown entfällt, müssen die Tories überlegen, wie weit sie den Liberalen bei dem Thema Änderung des Wahlsystems entgegenkommen können oder wollen.
Bei dem Problem der Haushaltskonsolidierung könnten sich die Liberaldemokraten zur Not der Stimme enthalten. Sie wissen, dass Großbritannien sich ein politisches Gerangel nicht leisten kann, sondern den Märkten und der eigenen Bevölkerung ein entschiedenes Handeln zur Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen schuldig ist.