Berlin. Zudringliche Kollegen: In der Vorweihnachtszeit steigt die Zahl der Meldungen von betroffenen Frauen. Was Linda, Marie und Clara berichten.
Der Chef hat zu viel getrunken. Linda merkt das, als er sich ihr bei der Weihnachtsfeier nähert. Sie merkt es an der Art, wie er anzüglich wird und dann zur Tat schreitet und sich am Reißverschluss ihres Kleides zu schaffen macht. Linda ist empört. Ihre Kollegen springen ihr bei und verlangen eine Entschuldigung vom Chef. Der lehnt das rundweg ab.
Linda heißt im wirklichen Leben anders, aber die Geschichte von der Weihnachtsfeier hat sie genau so dem Beraterteam der Antidiskriminierungsstelle erzählt. Auch Maries Geschichte ist in den vergangenen Tagen passiert. Wieder eine Weihnachtsfeier, wieder ein Mann, der sich nicht im Griff hat: Ein Kollege wird zudringlich, er fasst ihr „an den Hintern“, wie sie nachher erzählt. Marie meldet den Vorfall der Geschäftsführung und berichtet ihren Vorgesetzten davon. Statt ihr zur helfen, droht man ihr mit Kündigung.
Weihnachten: In der Beratungsstelle häufen sich die Fälle
Kein Einzelfall. Ferda Ataman beobachtet einen beunruhigenden Trend: „In unserer Beratungsstelle melden sich derzeit vermehrt Frauen, die beklemmende Erfahrungen gemacht haben“, sagt die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung dieser Redaktion. „Auffällig ist, dass viele Frauen von sexuellen Belästigungen bei Weihnachtsfeiern berichten – es fallen sexistische Sprüche, eklige Witze und sie werden körperlich bedrängt.“ Was viele nicht wüssten: Auch Weihnachtsfeiern gehören zum Job, auch hier müsse also der Arbeitgeber seine Beschäftigten schützen. „Sexuelle Belästigung ist verboten“, betont Ataman. „Anmache, Anbaggern und Anzüglichkeiten haben im Job nichts verloren.“ Belästiger müssten damit rechnen, abgemahnt, versetzt oder sogar gekündigt zu werden.
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Auch Clara (Name geändert) wendet sich nach einer Weihnachtsfeier an die Berater: Sie habe von ihrem Chef eine Handy-Nachricht bekommen: „Das Kleid war hot.“ Sie habe sich erst nicht viel dabei gedacht, sagt Clara. Als sie die Nachricht einer Kollegin zeigt, erzählt die, dass derselbe Chef in der Vergangenheit schon mal zwei Mitarbeiterinnen gegen ihren Willen angefasst habe. Eine der beiden habe daraufhin die Kündigung eingereicht. Bei ihr habe die Geschäftsleitung dann versucht, das Geschehene runterzuspielen und sie davon zu überzeugen, die Kündigung zurückzunehmen.
Sexuelle Belästigung: Meldezahlen steigen seit Jahren
Wer Belästigungen erlebe, solle das unbedingt zur Sprache bringen, rät Ataman. Jeder Betrieb in Deutschland muss eine Beschwerdestelle einrichten – selbst der kleinste Handwerker muss sicherstellen, dass sich Beschäftigte an eine Vertrauensperson wenden können. Wer sich unsicher ist oder kein Vertrauen in die eigenen Ombudsleute hat, kann sich auch an die Beratungsstelle der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden.
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Dort steigt die Zahl der gemeldeten Fälle von sexueller Belästigung seit Jahren: 2021 waren es 165 Fälle, ein Jahr später 224 Fälle, im vergangenen Jahr bereits 345 Fälle. Meistens melden sich Frauen, nur ganz selten sind es Männer – und wenn, dann sind es oft Kollegen von betroffenen Frauen, die auf Missstände aufmerksam machen wollen. Anders als viele vermuten würden, berichten viele Frauen den Beraterteams nicht überwiegend über Belästigungen durch Vorgesetzte, sondern häufig auch durch gleichgestellte Kollegen. Es passiert an der Garderobe, im Fahrstuhl – oder eben im Gedränge der Weihnachtsfeier.
Für das laufende Jahr gibt es noch keine Gesamtzahl. Schon jetzt aber sei absehbar, dass auch diesmal mit hohen Fallzahlen zu rechnen sei, heißt es. Das Phänomen, dass die Zahlen zum Ende des Jahres steigen, ist den Beratern bereits bekannt: Auch im November und Dezember des vergangenen Jahres seien die Beratungsanfragen zu sexueller Belästigung im Vergleich zum Restjahr auffallend hoch gewesen.
Übergriffige Kollegen? Betroffene Frauen müssen Fristen beachten
Was als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gilt, ist im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geregelt: Demnach gilt als solcher Vorfall, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, „insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird“. Zu unerwünschtem sexuell bestimmtem Verhalten gehören auch sexuell bestimmte Berührungen, Bemerkungen sowie unerwünschtes Zeigen von pornografischen Bildern oder Videos. Wer sich sexuell belästigt fühlt, kann sich wehren – muss aber Fristen beachten: Zwischen Vorfall und Meldung dürfen nicht mehr als zwei Monate liegen.
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Experten gehen davon aus, dass die steigenden Meldezahlen über das Jahr gesehen nicht zwingend von einem wachsenden Phänomen zeugen – auch die höhere Aufmerksamkeit und Enttabuisierung würden vermutlich dazu beitragen, dass sich mehr Betroffene melden. Das größte Hindernis ist für viele jedoch nach wie vor die Scham, über unangenehme Szenen zu sprechen – und die Frage, was danach kommt. Kommt es zur Beschwerde, muss das Unternehmen reagieren. Je nach Fall können Anschuldigungen bis zu einem Zivilprozess führen.
Die Werkstudentin Jenny (Name geändert) will einen anderen Weg gehen: Jenny erzählt, dass sie bei der Weihnachtsfeier durch Berührungen und Sprüche von einem Kollegen sexuell belästigt worden sei. Sie wolle aber, sagt sie, nicht gegen den Kollegen vorgehen, sondern den Arbeitgeber dazu bewegen, dass dieser die Belegschaft schule.