Jerusalem. Nach dem Raketeneinschlag auf einem Sportplatz wächst die Gefahr für einen neuen Krieg. Das Risiko ist für beiden Seiten groß.
Die Bilder sind schwer zu ertragen: Gerade noch haben sie in der Abendsonne Fußball gespielt, da bricht das Grauen über den Sportplatz von Madschdal Schams herein. Am Samstagabend wurden bei einem Raketenangriff in der drusischen Ortschaft auf den Golanhöhen mindestens zwölf Menschen getötet, die meisten davon Kinder und Jugendliche. Israel machte die Hisbollah im Libanon verantwortlich und kündigte Vergeltung an, ein offener Krieg rückt wieder in greifbare Nähe.
Die Golan-Höhen werden mehrheitlich von der Minderheit der Drusen bewohnt. Nach internationalem Recht gehört das Gebiet zu Syrien, steht aber vollständig unter Kontrolle der israelischen Armee. Wie vielerorts entlang des gesamten Grenzverlaufs zum Libanon schlagen auch in der informellen Hauptstadt der Region seit dem 7. Oktober immer wieder Raketen der Hisbollah und ihrer Verbündeten ein. Die israelische Armee überwacht von einer Militärbasis aus, die die sieben Kilometer vom Einschlagsort entfernt liegt, die Bewegungen der vom Iran unterstützten Milizen in Syrien und dem Libanon. Auch das „Auge Israels“ genannte Gelände wurde in den letzten Monaten immer wieder beschossen. Ob Madschdal Schams durch eine Rakete iranischer Produktion getroffen wurde, ist noch unklar.
Mohamed Afif, der Sprecher der schiitischen Hisbollah-Miliz, bestritt am Samstagabend gegenüber der Nachrichtenagentur AP die Verantwortung für den Angriff. Hisbollah-Anhänger hatten dagegen auf sozialen Medien am Nachmittag zunächst den „erfolgreichen Beschuss“ von Einrichtungen des israelischen Raketenschutzschirms „Iron Dome“ gefeiert.
Augenzeugen des Massakers berichten von einem zischenden Geräusch
Als bekannt wurde, dass die meisten Opfer in Madschdal Schams fußballspielende Jugendliche sind, machten sie israelische Luftabwehrraketen für den Einschlag verantwortlich. Nicht verifizierte Handy-Aufnahmen von Samstag sollen den Einschlag von so genannten Tamir-Flugkörpern des Iron Dome in den Hügeln rund um den 11.000 Einwohner-Ort zeigen. Doch Augenzeugen des Massakers berichten von einem zischenden Geräusch des Geschosses, ähnlich wie bei vorigen Angriffen aus dem Libanon.
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Der Sprecher der israelischen Armee, Daniel Hagari, machte die Hisbollah für das Massaker verantwortlich und benannte den südlibanesischen Ort Chebaa als Abschussort der Rakete. Es sei der blutigste Angriff auf Israel seit dem 7. Oktober, so Hagari. Der Vorsitzende des Gemeinderates von Madschdal Schams, Beni Ben Muvchar, sieht mit dem Angriff auf die Zivilisten eine rote Linie überschritten. Die Kommandeure der Hisbollah müssten nun direkt zur Rechenschaft gezogen werden, so Muvchar.
Wie ernst die Hisbollah die Gefahr eines massiven israelischen Gegenschlages nimmt, lässt sich aus den vielen Dementis ablesen, die seit Samstag auf verschiedenen Kanälen verbreitet werden. Der Raketen-Beschuss auf die israleische Militärbasis sei eine Antwort auf die gezielte Tötung von drei ihrer Kommaneure in den Stunden zuvor gewesen, hieß es. Israelische Kampflugzeuge hatten am Samstagmorgen ein Waffenlager in dem libanesischen Weiler Kfar Kila bombardiert und drei Kommandeure getötet.
Israel kündigt massive Antwort der Armee an
Israels Verteidigungsminister Joav Gallant kündigte noch am Samstagabend eine Antwort der Armee an, die sich „im Ausmaß deutlich von den bisherigen Maßnahmen unterscheiden werde“. Am Sonntag evakuierte die Hisbollah nach libanesische Medienberichten bereits mehr als 100 ihrer Stellungen und Einrichtungen in Beirut.
Israel könnte nun versuchen, die mit der UN-Resolution 1701 definierte Pufferzone durchzusetzen, in der sich die dort stationierten 10.000 Hisbollah-Kämpfer eigentlich nicht aufhalten dürfen. Im Südlibanon stationierte UN-Truppen konnten das Gebiet zwischen der israelisch-libanesischen Grenze und dem 30 Kilometer entfernten Litani-Fluss jedoch nie vollständig überwachen. Aroldo Lazaro Saenz, der Kommandeur der so genannten UNIFIL-Mission, forderte Israel und die Hisbollah am Samstag zur Zurückhaltung auf.
Militärisch ist die israelische Armee der Hisbollah zwar weit überlegen, doch in dem hügeligen und bewaldeten Grenzgebiet konnte die gut organisierte Miliz zahlreiche Verstecke und Hinterhalte anlegen. Im Kriegsfall würde sie versuchen, israelische Soldaten zu entführen, um in israelischen Gefängnissen einsitzende Kampfgefährten freizupressen.
Doch auch für die Hisbollah wäre ein Landkrieg gegen die Israels Armee nicht ohne Risiko. Ihre Macht stützt sich auf schiitische Viertel in Beirut, den Südlibanon und die Infiltrierung staatlicher Institutionen. Die seit 2019 anhaltende massive Wirtschaftskrise, die Explosion von 2750 Tonnen Düngemittel im Hafen von Beirut und ihre enge Kooperation mit dem Regime in Damaskus haben sie bei der Mehrheit der Libanesen die letzten Sympathien gekostet.
Wäre es anders, wenn die Rakete Tel Aviv getroffen hätte?
Im Fall einer israelischen Invasion würde das marode Bankensystem des Libanon wohl endgültig zusammenbrechen. Millionen libanesischer Bankkunden haben seit 2019 keinen Zugriff auf die Guthaben auf ihren Bankkonten. Im Kriegsfall dürfte eine immer wieder diskutierte Reform des Bankensystems endgültig vom Tisch sein. Dann stünden viele Libanesen vor dem Nichts, warnt der Chef des Unternehmerverbandes Nicolas Chamas. Im Libanon zweifeln daher viele, ob es tatsächlich im Interesse der Hisbollah sei, drusische Zivilisten auf den israelisch besetzten Golanhöhen anzugreifen.
Faed Safad, ein geschockter Bewohner in Madschdal Shams, glaubt nicht, dass Israel nun in den Krieg ziehen wird. Auf dem von Blutlachen überzogenen Fußballplatz sagte der Druse einem Reporter des israelischen Fernsehsender I24: „Sie werden keine israelische Kampflugzeuge über Beirut sehen, denn wir sind hier doch nur die Peripherie und es ist nur drusisches Blut. Anders wäre es, wenn es Tel Aviv getroffen hätte. Netanjahu lässt uns im Stich.“