Wien. Russische Spione in Wien? Der Geheimdienst ist alarmiert, die Politik ist still. Das hat einen Grund. Die Polizei versucht es mit einem Trick.
An sich fügt sich der Betonklotz in den Wiener Ortsteil Donaustadt ein. Ein Stadtteil, der geprägt ist von Wohnblocks, Baumärkten, Einfamilienhaussiedlungen und Durchgangsstraßen. Wären da nicht die unzähligen Überwachungskameras und der blickdichte Zaun drumherum sowie die riesige Antennenanlage auf dem Dach: Was hinter den Toren der russischen Vertretung in Wien genau passiert, wissen wohl nur diejenigen, die dort ein- und ausgehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass von dort aus in großem Stil Spionage betrieben wird, ist allerdings hoch.
Hinter dem schlichten Gebäudekomplex aus den 1980er-Jahren verbirgt sich eine gigantische russische Niederlassung mit Büros, Wohnungen für Mitarbeiter, ein Spielplatz und sogar eine Schule. An die 150 Personen sind als Mitarbeiter der Vertretung akkreditiert, hinzu kommen Russen, die bei den in Wien ansässigen UN-Organisationen sowie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) arbeiten. Mit insgesamt 258 Mitarbeitern handelt es sich um eine der größten Auslandsvertretungen Russlands weltweit. Was es so gefährlich macht: Rund ein Drittel des Personals soll Spione sein. Davon sind Experten überzeugt.
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Sie gehen außerdem davon aus, dass es sich bei den Sat- und Antennen-Anlagen auf dem achteckigen Betonturm um eine zentrale Spionage-Schnittstelle für Datenübertragung und Kommunikation in Europa handelt. Ein klarer Fall also für die österreichische Spionageabwehr, sollte man meinen. Doch weit gefehlt: Laut dem österreichischen Recht ist Spionage nur strafbar, wenn sie die staatliche Sicherheit Österreichs gefährdet oder sich gegen Österreich richtet. Wenn aber andere Staaten von der Anlage in Wien aus ausspioniert werden, geht es den österreichischen Staat nichts an.
Russland spioniert von Wien aus – davon gehen Experten aus
Es sei denn, die Anlage verstößt gegen die Bauordnung. Und das ist offenbar bei der Antennenanlage der Fall. Die Wiener Baupolizei MA37 hat das Außenministerium jedenfalls über Aktivitäten an besagter Adresse informiert. Was die Polizei bemängelt: Auf dem Dach des Baus sei eine nicht genehmigte Struktur errichtet worden. Eine Benachrichtigung erhielt laut Medienberichten auch die russische Botschaft.
Abgebaut wird die Anlage wohl trotzdem nicht. Es könnten keine Maßnahmen zur Vollstreckung von Abtragungsaufträgen gesetzt werden, heißt es in der sperrigen Behördensprache. Diese Untätigkeit steht fast schon symbolisch für Österreichs Umgang mit Russland. Dabei gäbe es einen guten Grund, genauer auf die Anlage zu blicken, denn der österreichische Geheimdienst DSN geht von 22 Spionagetätigkeiten aus, die ihren Ursprung in Wien haben und sich gegen Österreich richten. In einem Bericht heißt es: „Im Aufklärungsradius befinden sich ebenso verfassungsmäßige Einrichtungen als Ziel der russischen Spionage gegen Österreich.“ Trotz dieser Hinweise tue sich aber im Außenministerium nichts, klagt der Geheimdienst DSN laut Medienberichten.
Russland und Österreich sind immer noch „strategische Partner“
Tatsächlich tut sich das politische Österreich sichtlich schwer, die Beziehungen zu Russland neu zu ordnen. Laut geltender Sicherheitsdoktrin ist Russland zum Beispiel immer noch „strategischer Partner“. Zu einer Neuformulierung hat man sich auch zweieinhalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine noch nicht durchringen können. Auch mit der Ausweisung von Diplomaten geht Österreich bisher sehr zögerlich um – mit Verweis auf die sehr kleine österreichische Vertretung in Moskau und die Praxis Russlands, spiegelgleich zu reagieren.
Gar nicht klein ist hingegen die wirtschaftliche Verflechtung Österreichs mit Russland. So ist auch die größte Bank des Landes, die Raiffeisen International, nach wie vor in Russland aktiv. Und umgekehrt sind auch russische Unternehmer sehr umtriebig in Österreich.
Dass Österreichs Rechtsrahmen Spionageaufklärung behindert, hat sich im Frühling gezeigt: Da wurde ein langjähriger Mitarbeiter in Österreichs Innenministerium verhaftet, der mindestens zehn Jahre lang für Russland spioniert und Aktionen koordiniert hatte. Mindestens ein zweiter Geheimdienstmitarbeiter war involviert, hat sich aber abgesetzt. Ihre Aufträge sollen sie vom flüchtigen Wirecard-Manager Jan Marsalek bekommen haben, der sich über Wien nach Russland abgesetzt hatte.
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Bekannt wurde im Zuge all dessen die Zusammenarbeit Marsaleks mit der rechtsextremen FPÖ. Zudem gibt es laut „Politico“ sehr starke Hinweise auf russische Sabotage: Dabei handelt es sich um die bis dato mysteriöse Razzia einer Polizeieinheit zur Bekämpfung von Straßenkriminalität im damaligen Geheimdienst BVT im Jahr 2018 unter dem damaligen Innenminister Herbert Kickl (heute FPÖ-Chef). Die Razzia könnte das Werk russischer Sabotage gewesen sein – mit dem Ziel, die österreichischen Dienste gegenüber westlichen Partnern zu diskreditieren, zu isolieren, zu zerschlagen und eine Neuaufstellung unter russischer Einflussnahme zu erzwingen.
Die österreichisch-russische Freundschaft ist alte Tradition
Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) versprach im Zusammenhang mit der Verhaftung des österreichischen Doppelspions zu Ostern „lückenlose Aufklärung“. Der nationale Sicherheitsrat wurde einberufen. Nun gab es auch eine Anfrage seitens der liberalen NEOS zu den Berichten bezüglich der BVT-Razzia, die das Thema als einzige Partei intensiv bearbeiten. Sonst ist es allerdings sehr still geworden rund um dieses Thema, das eigentlich einer strukturellen Staatskrise gleich kommt. Die Frage ist: Woran liegt das?
Tatsache ist, dass alle Großparteien zweifelhafte Beziehungen nach Russland haben. Denn in anderen Zeiten war man gerne Gast in einer anderen, weitaus nobleren russischen Liegenschaft: in einem Palais in der Wallnerstraße im ersten Bezirk gleich hinter der Hofburg. Da hatte die österreichisch-russische Freundschaftsgesellschaft ihre Räumlichkeiten. Politiker, Unternehmer, „Russland-Experten“ und Leute wie Jan Marsalek trafen hier einander über Jahre bei Canapes und Schaumwein und heckten Pläne aus.
Wie also umgehen mit dem Umstand, dass sich in Wien 22 auf formal russischem Hoheitsgebiet eine russische Spionagezentrale befinden dürfte? Österreichs neuer Geheimdienst DSN hat angeblich sogar die Schließung der gesamten Liegenschaft angeregt. Im jüngsten Verfassungsschutzbericht heißt es: „Wien fungiert für Russland als Knotenpunkt in der Signalaufklärung (SIGINT) von Nato-Staaten.“ Die DSN verlangt vom Außenministerium einem Medienbericht zufolge auch die Ausweisung von 14 russischen „Diplomaten“. Geschehen ist das bisher nicht.
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