Berlin. Immer wieder werden Gespräche zwischen Russland und Ukraine gefordert. Dokumente belegen: Es gab sie – ihr Scheitern ist ein Lehrstück.
Ohne Russland soll eine Konferenz in der Schweiz einen Weg zum Frieden in der Ukraine ebnen. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach sich dafür aus, Russland in einem Friedensprozess für die Ukraine zu beteiligen: „Es ist wahr, dass der Frieden in der Ukraine nicht erreicht werden kann, ohne Russland mit einzubeziehen.“
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Beide Kriegsparteien waren schon mal weiter. Sie saßen am Tisch und haben miteinander geredet und gerungen. Sie haben sogar einen Friedensvertrag entworfen.
Als afrikanische Staatschefs im Juni 2023 Kremlchef Wladimir Putin aufforderten, den Ukraine-Krieg zu beenden, hielt er ein Papier hoch: „Hier ist es.“ Ein Abkommen. 18 Punkte. Titel: „Vertrag über ständige Neutralität und Sicherheitsgarantien der Ukraine.“
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Ukraine schutzlos
Die Gespräche gab es wirklich. Sie zogen sich drei Monate hin, von Februar bis April 2022, also gleich nach Kriegsbeginn. Sie fanden zunächst in Weißrussland, dann in Istanbul statt. Für die Öffentlichkeit blieb das Ergebnis nebulös; erst recht, woran und an wem eine Einigung gescheitert war.
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Am Wochenende veröffentlichte die „New York Times“ die damaligen Dokumente, zwei Vertragsentwürfe vom 17. März und 15. April 2022 sowie ein Communiqué vom 29. März. Es gibt unterschiedliche Darstellungen und Einschätzungen; insbesondere darüber, ob Putin es ernst meinte oder trickste. Aber im Kern ist eine Einigung an den Sicherheitsgarantien für die Ukraine gescheitert.
Selenskyj pochte auf „Garantiestaaten“
In Kiew hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits am Tag des Angriffs – am 24. Februar 2022 – in einer Fernsehansprache erklärt, über Neutralität könne man verhandeln. Die Ukraine müsse aber internationale Garantien für ihre Sicherheit erhalten.
Die Ukraine würde auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten. Im Gegenzug verlangte sie nach Garantiestaaten und schlug dafür Großbritannien, China, Russland, USA, Frankreich, Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen und Israel vor. Wörtlich heißt es in einem Papier: Die „Garantiestaaten“ sollten im Falle einer Aggression, eines bewaffneten Angriffs, einer Militäroperation der Ukraine Hilfe leisten.
EU kein Stolperstein
Die Garantie war ein Kernpunkt. Eine Einigung scheiterte daran, dass Russland auf Einstimmigkeit pochte. Das hieße, dass Russland die Ukraine angreifen und zugleich faktisch ein Veto gegen jede Hilfsaktion einlegen konnte. Die Ukraine sollte schutzlos bleiben. Bemerkenswert ist, wofür man Lösungen gefunden hatte:
- Die Krim wurde ausgeklammert. Sie blieb unter russischer Besatzung, ohne dass die Ukraine diese anerkannte. Der Vertrag sollte auf die Krim keine Anwendung finden.
- Russland gab alle Einwände gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine auf.
Die Differenzen werden in den Dokumenten farblich hervorgehoben, rot markiert. Russland stellte eine Vielzahl von Forderungen auf. Zum Beispiel sollte die Ukraine Russisch als Amtssprache einführen. Die Russen wollten auch das letzte Wort über das Waffenarsenal haben. So sollte die Reichweite der ukrainischen Raketen maximal 40 Kilometer betragen. Natürlich sollten alle Sanktionen gegen Russland fallengelassen werden.
Welche Gebiete Putin beanspruchte
Vor allem stellte Putin eine Forderung auf, die er vor wenigen Tagen bekräftigt hat: weitreichende Gebietsabtretungen im Osten der Ukraine. Wörtlich lautete der Vorschlag: „Die Ukraine erkennt die Unabhängigkeit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk innerhalb der Verwaltungsgrenzen der ehemaligen Oblaste Donezk und Luhansk der Ukraine an und wird in diesem Zusammenhang umfassende Änderungen der nationalen Gesetzgebung vornehmen.“
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Später hat Russland dem Westen vorgeworfen, die Gespräche sabotiert zu haben – namentlich der damalige britische Premier Boris Johnson bei einem Besuch in Kiew. Die „New York Times“ schildert eine ganz andere Episode aus einem Treffen der NATO-Staats- und Regierungschefs am 24. März in Brüssel. Polens Präsident Andrzej Duda habe demnach die Runde auf einen Vertragstext vom 17. März angesprochen und gefragt: „Wer von Ihnen würde es unterschreiben?“ Die Antwort: Schweigen.
Abramowitsch vermittelte
Ob Selenskyj sich ohne den westlichen Rückhalt einem Diktat Putins gebeugt hätte? Letztlich fehlte es am Vertrauen, am Glauben, dass Putin einen dauerhaften Frieden wollte. Darüber gehen die Meinungen allerdings selbst unter den ukrainischen Unterhändlern indes weit auseinander.
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Zumindest ein Mitglied des ukrainischen Verhandlungsteams, Oleksandr Chalyi, behauptete im Dezember 2023 bei einer Podiumsdiskussion in Genf, dass man damals nahe dran war, einen „sehr realistischen Kompromiss zu finden“. Ende April sei man kurz davor gewesen, den Krieg zu beenden.
Grundzüge eines Friedensvertrages
In Istanbul hatte man sogar ein Treffen zwischen Selenskyj und Putin verabredet. Sie sollten den Dokumenten der Unterhändler zufolge die letzten Differenzen ausräumen. Als Vermittler fungierte der russische Milliardär Roman Abramowitsch, Chefunterhändler war Wladimir Medinsky, ein Berater des Kremlchefs. Am 15. April schickte er Putin einen 17-seitigen Vertragsentwurf.
Einige Ukrainer glauben, dass Putin über ihren militärischen Widerstand überrascht war und sich deswegen überhaupt auf Gespräche einließ. Die Dokumente zeugen jedenfalls davon, dass man gewissenhaft und ausführlich alle wichtigen Aspekte besprach: eine Neutralität, die Nato-Frage, ein EU-Beitritt, Sicherheitsgarantien, Gebietsansprüche, einen Waffenstillstand, die Bewaffnung und Obergrenze für das Militär und sogar die nationale Identität der Ukraine.
Die Grundzüge eines Friedensvertrages lagen auf dem Tisch. Damals schien die Ukraine – für ein rasches Kriegsende – zu schmerzhaften Kompromissen bereit zu sein. Zwei Jahre später sind beide Kriegsparteien wahrscheinlich weiter denn je von einem Frieden entfernt.
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