Hamburg. Maryam Blumenthal gibt ehrgeizige Ziele für die kommende Bundestagswahl vor. Was sie von ihrer Partei fordert.

Maryam Blumenthal kam als Dreijährige mit ihrer Familie nach der Flucht aus Teheran nach Deutschland. Sie wuchs in Steilshoop auf und ist heute Berufsschullehrerin mit den Fächern Pädagogik sowie Wirtschaft/Politik. Blumenthal war Abgeordnete der Bezirksversammlung Wandsbek und gehört der Bürgerschaft seit 2020 als stellvertretende Fraktionschefin der Grünen an. Ende Mai wurde die 36-Jährige zur Landesvorsitzenden der Grünen gewählt.

Hamburger Abendblatt: Frau Blumenthal, Sie sind die erste Landesvorsitzende der Hamburger Grünen mit einem Migrationshintergrund. Was bedeutet das für Sie, was für Ihre Partei?

Maryam Blumenthal: Für mich persönlich nicht so viel wie für die Partei. Bei den Grünen hat es in den vergangenen Jahren einen Bewusstseinswandel gegeben, der sich zum Beispiel in unserem Vielfaltsstatut widerspiegelt. Wir haben verstanden, dass Veränderungen in der Gesellschaft nur funktionieren, wenn wir uns divers aufstellen, also alle gesellschaftlichen Gruppen mitdenken. Ich kann nicht nur aufgrund meines Migrationshintergrunds, sondern auch aufgrund der Art, wie ich aufgewachsen bin, eine andere Perspektive mit einbringen.

Die Grünen gelten mittlerweile als Partei der ganz gut Verdienenden und der Akademiker, also eher Eppendorf als Billstedt oder Steilshoop, wo Sie aufgewachsen sind. Hatten Sie es deswegen schwerer?

Blumenthal: Nein, ich hatte es überhaupt nicht schwerer. Ich durfte durch viele offene Türen gehen. Ich glaube allerdings, dass ich manchmal mit der Art, wie ich Themen anspreche und angehe, andere stutzig mache. Ich bin sehr pragmatisch. Wir müssen nicht alles immer auf einem superintellektuellen Level ausdiskutieren, sondern manchmal müssen wir einfach nur ein Problem klären. Einige mussten ihr Bild von einer typischen Grünen mit mir neu konstruieren.

Haben die Grünen die Menschen, die wenig verdienen oder von Hartz IV leben, genügend im Blick?

Blumenthal: Keine Partei hat das Thema richtig im Griff. Noch immer müssen sehr viele Menschen von Hartz IV leben. Hartz IV an sich ist ein Problem und bedeutet eine krasse Stigmatisierung von Menschen. Das haben die Grünen begriffen. Das ist der erste gute Schritt. Politik neigt grundsätzlich dazu, sich eher um die Leute zu kümmern, die einem nahe sind oder mit denen man ständig im Austausch ist. Wir haben die Menschen im Blick, aber noch nicht genügend.

Was muss geschehen?

Blumenthal: Erst mal müssen wir mit den Menschen reden. Wenn Sie mich als Beispiel nehmen: Ich habe, bis ich durch Zufall zu den Grünen gekommen bin, nie mit Politik zu tun gehabt. Ich kenne viele Menschen, die Politik nur beim Durchzappen im Fernsehen wahrnehmen, aber nie gehört oder beteiligt werden. Wir machen uns viele Gedanken darüber, was Menschen benötigen, aber zu wenig gemeinsam mit ihnen.

In der Nominierungsrede zu Ihrer Wahl haben Sie Ihre Partei aufgefordert, aus der „grünen Blase“ herauszukommen und „auch die Themen der äußeren Stadt“ zu grünen Themen zu machen. Was meinen Sie damit genau?

Blumenthal: Das war, ehrlich gesagt, auch ein Appell an mich selber. Ich neige auch manchmal dazu, in dieser Blase, die eigentlich eine Politikblase ist, zu verharren. Es wäre vermessen zu sagen, dass ich die Frau aus der Mitte der Gesellschaft bin. Mein Leben heute ist ein völlig anderes als vor zehn Jahren. Aber: Wenn wir uns die Hamburgkarte nach der Bürgerschaftswahl ansehen, dann gibt es einen sehr grünen Kern und einen nicht-grünen Nicht-Kern drumherum. Um diese Bereiche müssen wir uns stärker kümmern.

„Wir sind für viele verschiedene Milieus überhaupt nicht der Ansprechpartner … das muss sich ändern“, sagten Sie in Ihrer Rede auch. Dachten Sie da auch an Ihre eigene Steilshooper Herkunft?

Blumenthal: Ich denke unter anderem an Billstedt, Neu-Allermöhe, Osdorf oder eben Steilshoop. Wir müssen fragen: Was bewegt die Menschen dort? Wen wählen sie warum oder warum wählen sie nicht? Wie schaffen wir es, dass sie sich mitgenommen fühlen? Wir reden über einen großen gesellschaftlichen Riss, das Auseinanderdriften der Milieus und darüber, dass wir den Schulterschluss der demokratischen Kräfte hinbekommen müssen. Wir dürfen diese Menschen nicht verlieren. Und ich habe versprochen, ich gehe in diese Stadtteile und wir versuchen, da besser zu werden. Wir Grünen brauchen dort mehr Mitglieder und Bündnispartner. Man braucht Leute vor Ort, die ein gutes Gefühl für die Menschen haben, um sie zu erreichen.

Haben Sie noch Kontakt zu den Menschen, mit denen Sie aufgewachsen sind?

Blumenthal: Ja. Meine Freundinnen haben studiert und sind mittlerweile weggezogen, aber deren Eltern wie auch meine Mutter leben nach wie vor in Steilshoop. Es gibt auch schwierige Schicksale: Einige der Jungs, mit denen ich im Haus der Jugend abgehangen habe, haben schon im Gefängnis gesessen oder dealen mit Drogen. Dort gibt es andere Sorgen, das ist mir sehr bewusst. Wir brauchen ganz dringend eine gesellschaftliche Durchmischung. Stadtplanerisch ist, was dortpassiert ist, ein Armutszeugnis.

Trotz mancher weißen Flecke: Die Grünen sind in Hamburg so stark wie nie. Dennoch stehen der Bürgermeister und die SPD-Senatoren in der Corona-Pandemie im Blickpunkt. Die Grünen sind nur wenig wahrnehmbar. Ist das ein Problem?

Blumenthal: Aus meiner Sicht es ist kein Problem. Es gibt ja auch andere politische Themen, die weiterbewegt werden. Ich verstehe aber, wenn Menschen sagen, die Grünen sind gerade nicht so sichtbar, und fragen, wo sie eigentlich in der Pandemiebekämpfung stehen. Das ist vielleicht eine etwas einfache Sicht, denn wir diskutieren Woche für Woche in der Koalition, wie es weitergehen soll. Es ist nicht so, dass Peter Tschentscher und Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard allein austüfteln, wie es weitergehen soll. Wir als Grüne stehen dahinter und erarbeiten das gemeinsam mit der SPD.

Oder haben die Grünen die falschen Ressorts besetzt?

Blumenthal: Ach, Sie könnten 60 Grüne fragen und würden so viele unterschiedliche Antworten bekommen. Letztlich muss es ja auch darum gehen, dass wir die richtigen Leute haben, um die Ressorts gut zu besetzen, und die haben wir. Einfach Wunschressorts zu benennen, von denen man sich Aufmerksamkeit erhofft, hilft nicht weiter.

Wie bewerten Sie die Arbeit des Ersten Bürgermeisters Peter Tschentscher?

Blumenthal: Er macht eine sehr solide Arbeit und ist gesprächsbereit. An der einen oder anderen Stelle könne er auf politischer Ebene noch mehr in die Arbeit eintauchen.

Was meinen Sie genau?

Blumenthal: Die Ebene der politischen Gestaltung sollte mehr in den Vordergrund rücken. Zum Beispiel: Wo wollen wir hin mit der Stadt? Was ist in zehn oder 20 Jahren? Welche Möglichkeiten können wir der Stadtgesellschaft eröffnen?

Sie sind ja Lehrerin. In der Summe vergeben Sie also eine Zwei bis Drei für den Bürgermeister.

Blumenthal: (Lacht) Ja... Ich bin sowieso kein Fan von Einsen. Da müssen die Leistungen schon top sein. Eine Eins vermittelt oft das Gefühl, man muss nichts mehr machen. Für die Menschen in der Stadt müssen wir alle aber noch eine Schippe drauflegen.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit der SPD in der Koalition?

Blumenthal: Wir sind mit 33 Bürgerschaftsabgeordneten enorm gewachsen, mit neuen Strukturen und neuem Fraktionsvorstand. Darauf musste sich die SPD erstmal einlassen. Inzwischen haben wir uns ganz gut eingependelt. Wir haben ganz muntere digitale Treffen mittlerweile. Dabei wird es immer wieder inhaltliche Differenzen geben. Wir Grüne sind kein Anbau mehr, wie es früher hieß, aber wir sind zahlenmäßig auch noch keine Doppelhaushälfte. Unser Ziel ist, das Haupthaus zu werden. (Lacht)

Die Mitgliedzahl der Hamburger Grünen hat sich im Laufe weniger Jahre mehr als verdoppelt. Die Erwartungen an schnelle Ergebnisse grüner Politik dürften riesig sein. Sie haben erklärt, dass Sie die Parteigegenüber Fraktion und Senat stärken wollen. Ist der Konflikt da nicht absehbar?

Blumenthal: Nö. Das lebt von einer guten Kommunikation. Wir führen intern viele Gespräche, natürlich auch mit unseren Senatoren, die ja ein wichtiger Teil unserer Partei sind. Nur über die Partei schaffen wir eine Weiterentwicklung unserer Programmatik, nicht über den Senat. Nur so können wir ein gutes Ergebnis bei der Bürgerschaftswahl 2025 erreichen.

Sie bezeichnen sich selbst als „Typ Macherin”. Was meinen Sie damit genau?

Blumenthal: Ich bin mir nicht zu schade, überall mit reinzugehen und es selber zu machen. Ich will nicht endlos darüber reden, was theoretisch möglich ist. Ich bin die erste, die sich meldet und sagt: Ich mach’s.

Ein Beispiel?

Blumenthal: Als neue Abgeordnete der Bezirksversammlung Wandsbek habe ich damals gesagt: Es wäre doch ganz cool, wenn wir das Dorfzentrum von Volksdorf autoarm machen. Alle sagten: Das versuchen wir schon seit 2004. Ich fand, das kann doch nicht wahr sein, seit 2004. Ich habe viele Gespräche geführt und dann gesagt: Jetzt machen wir das einfach. Wenn es nicht gut läuft, dann lassen wir es wieder. Im August geht das Beteiligungsverfahren los. Wegen der Pandemie ein Jahr später als geplant.

Welche politischen Schwerpunkte sollten sich die Grünen Ihrer Ansicht nach für die Nach-Corona-Zeit vornehmen?

Blumenthal: Das Wichtigste ist die Überarbeitung des Klimaschutzgesetzes und die Anpassung des Klimaplans. Das wird eine große Herausforderung für die Koalition. Dann geht es darum, das Thema soziale Gerechtigkeit und Sicherheit als unser Thema anzunehmen.

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In Hamburg sind die Grünen mit dem Ziel, die Erste Bürgermeisterin zu stellen, gescheitert. Wie schätzen Sie die Chancen von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ein?

Blumenthal: Wir werden in den nächsten Wochen sehen, wie die Gesellschaft das verarbeitet, was gerade mit Annalena Baerbock gemacht wird. Führt das zu schwindendem Vertrauen oder zu Solidarität? Ich bin fassungslos, wie sie diffamiert wird. Ihre Chancen sind immer noch sehr gut. Das ist wohl auch der Grund, warum einige so auf sie einschießen.

Hat Annalena Baerbock selbst auch Fehler gemacht?

Blumenthal: Das hat sie selbst eingeräumt. Aber man kann darüber diskutieren, ob es ein Fehler ist, in einem nichtwissenschaftlichen Buch Zitate nicht kenntlich zu machen. Wenn es ihr größter Fehler ist, überspitzt gesagt, ihre Schuhgröße in ihrem Lebenslauf nicht richtig angegeben zu haben, dann ist es okay. Niemand ist fehlerfrei. Und muss eine Kanzlerin fehlerfrei sein?

Es ging nicht um die Schuhgröße, sondern unter anderem darum, was sie mit welchem Erfolg studiert hat. Noch mal: Haben die Grünen ihre Chancen auf das Kanzleramt schon verspielt?

Blumenthal: Nein, auf keinen Fall. Es sind noch zwölf Wochen bis zur Bundestagswahl. Es ist doch eine krasse Wahl: entweder Annalena Baerbock oder auf der anderen Seite Olaf Scholz und... wie heißt der noch mal? Ich glaube, es gibt viele kluge Menschen, die furchtbar finden, was da gerade gegen Annalena Baerbock läuft.

Anders gefragt: Sind die Deutschen denn reif für eine grüne Kanzlerin?

Blumenthal: Eine ähnliche Frage hatten wir letztes Jahr in Hamburg ja auch schon. Angela Merkel hat es als Frau in 16 Jahren nicht geschafft, den Weg an die Spitze für Frauen zu öffnen. Ich hoffe sehr für die vielen jungen Frauen, dass mit Annalena Baerbock eine moderne Frau an der Spitze eines so wichtigen Landes stehen wird. Sie verheimlicht nicht, dass sie eine Frau ist, dass sie Kinder hat, auch mal einen Rock anzieht. Genau das wird doch immer als Argument benutzt, um Frauen nicht in Führungspositionen sehen zu wollen – ob in der Wirtschaft oder in der Politik.

In Hamburg können die Grünen erstmals bei einer Bundestagswahl Direktmandate gewinnen. Was ist Ihr Wahlziel?

Blumenthal: Ich möchte, dass wir sechs Mandate holen. Und ich hoffe, dass wir auch Wahlkreise direkt gewinnen.