Berlin. Dass ihr Verhältnis einmal so eng werden würde, war zu Beginn des Ukraine-Kriegs nicht abzusehen. Die Geschichte einer Annäherung.

Begrüßungen sind eine heikle Angelegenheit, für politische Reden gilt das allemal. Man darf niemanden vergessen, muss Rang und Status der Zuhörer beachten und exakt sein bei Funktionsbezeichnungen. Ein Präsident möchte nicht als Premierminister angesprochen werden und ein Botschafter nicht als Vorsitzender. Klingt fürchterlich kompliziert und formalistisch – und ist es in den meisten Fällen auch.

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Dienstagmorgen auf dem Messegelände in Berlin: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eröffnet die internationale Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine. Zweitausend Repräsentanten von mehr als 60 Ländern, von Unternehmen und Organisationen sind anwesend. Und ein ganz besonderer Gast. Der Kanzler stellt gleich bei der Begrüßung der Konferenzteilnehmer klar, dass er ihn als Freund betrachtet. Als jemanden, der jetzt und in Zukunft die Unterstützung bekommen soll, die er und sein Land brauchen. Das ist, wenn man so will, auch schon die zentrale politische Botschaft dieses Tages.

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    „Sehr geehrter Staatspräsident Selenskyj, lieber Wolodymyr“, sagt Scholz vom Rednerpult in Richtung erste Reihe, wo der ukrainische Staatschef sitzt. Kurz darauf wird er hinzufügen: „Es ist uns eine Freude und eine Ehre, dass Du, lieber Wolodymyr, zusammen mit so vielen anderen Vertreterinnen und Vertretern aus der gesamten Ukraine heute hier bist.“ Als Selenskyj später das Wort ergreift, um seine Sicht auf die Lage in der Ukraine zu schildern, bedankt er sich höflich beim Kanzler, den er selbstverständlich „Olaf“ nennt.

    Ukraine: Kein europäisches Land liefert mehr Waffen als Deutschland

    Selenskyj und Scholz, Wolodymyr und Olaf: Das ist eine Geschichte für sich. Seit fast zweieinhalb Jahren tobt Russlands brutaler Angriffskrieg in der Ukraine. Wann er zu Ende gehen wird und vor allem wie, vermag niemand zu sagen.

    Als der russische Gewaltherrscher Wladimir Putin im Februar 2022 seinen Soldaten befahl, im Nachbarland einzumarschieren, gaben viele westliche Politiker den Ukrainern nur ein paar Tage bis zum Untergang. Selenskyj und seine Leute schienen dem Tode geweiht. Dank westlicher Waffenhilfe und Finanztransfers halten die Verteidiger bis heute durch. Sie konnten einen Großteil des Landes wieder befreien und den Aggressor in die Schranken weisen. Der Staatschef und sein Team reisen durch die Welt, schmieden Allianzen und festigen sie. Die Ukraine ist heute EU-Beitrittskandidat und klopft an die Tür der Nato.

    Man muss kein Fan von Olaf Scholz sein, um festzustellen, dass er eine zentrale Rolle dabei spielte. Kein europäisches Land lieferte bislang mehr Waffen an die Ukraine als Deutschland, kein anderer europäischer Staat mobilisierte mehr Geld. Umstritten ist freilich, ob das, was der Kanzler tat und tut, ausreichend ist und immer auf der Höhe der Zeit.

    Bei der Wiederaufbaukonferenz in Berlin geht es am Dienstag und Mittwoch um die Frage, wie die zerschossene Infrastruktur der Ukraine wieder hergerichtet und wie die Wirtschaft vorbereitet werden kann für den geplanten EU-Beitritt. Scholz und Selenskyj werden sich in den kommenden Tagen noch mehrfach sehen – zunächst ab Donnerstag beim G7-Gipfel in Italien und gleich anschließend beim Ukraine-Friedensgipfel in der Schweiz, an dem der Aggressor Russland allerdings nicht teilnehmen wird.

    Kanzler: Das große Zögern nach Russlands Überfall

    Der Kanzler sagt am Dienstag: „Nie waren die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine so eng und so vertraut wie heute.“ Und Selenskyj sagt etwas später mit Blick auf die Lieferung von Luftverteidigungssystemen: „Deutschland ist schon heute zum Retter Tausender Leben geworden, die es vor russischem Terror geschützt hat. Dafür wird die Ukraine für immer dankbar sein.“

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    Dass es mal so weit kommen und das Verhältnis der beiden Staatslenker so eng werden würde, war zu Beginn der russischen Invasion Anfang 2022 nicht abzusehen. Im Gegenteil: Scholz, erst wenige Wochen im Amt, rief zwar damals die „Zeitenwende“ für Deutschland und Europa aus.

    Haben mittlerweile ein gutes Verhältnis: Wolodymyr Selenskyj (links) und Olaf Scholz.
    Haben mittlerweile ein gutes Verhältnis: Wolodymyr Selenskyj (links) und Olaf Scholz. © AFP | ODD ANDERSEN

    Er zögerte aber, die Ukraine auch im großen Stil mit Waffen zu unterstützen. Im März 2022 ließ sich Selenskyj per Video in den Bundestag schalten, seine Ansprache kam einer Standpauke für Scholz gleich. Russlands Invasion habe eine Art neuer Mauer mitten in Europa geschaffen – die zwischen Freiheit und Unfreiheit, sagte der Präsident damals. „Zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient.“ Scholz tauchte ab und sagte kein Wort. In Berlin trieb in den folgenden Monaten der damalige ukrainische Botschafter Andrij Melnyk die Regierung in Sachen Waffenlieferung vor sich her. Den Kanzler bezeichnete er als „beleidigte Leberwurst“, weil Scholz zeitweise nicht bereit war, nach Kiew zu fahren.

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    Als der Krieg begann, schickten die Deutschen 5.000 Helme. Die Lieferung schwerer Waffen kam erst nach und nach in Gang. Vor allem die Kanzlerpartei SPD mussten schmerzhaft Abschied nehmen von ihrer vermeintlichen Gewissheit, dass Frieden in Europa nicht gegen Russland möglich sei, sondern nur mit ihm.

    Inzwischen kämpfen die ukrainischen Streitkräfte unter anderem mit deutschen Panzern, Raketenwerfern und Flugabwehrsystemen. Seit Februar 2022 hat Deutschland der Ukraine Militärhilfe im Umfang von 28 Milliarden Euro geleistet oder zugesagt. Weitere Milliarden flossen für zivile Zwecke. Rund eine Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge fanden Schutz in der Bundesrepublik. Nur die Vereinigten Staaten unterstützen die Ukraine in noch größerem Maße.

    Waffen: Beim Thema Taurus bleibt Scholz weiter hart

    Zuletzt hatte es hinter den Kulissen wieder etwas geknirscht, weil Scholz es ablehnt, der Ukraine auch Marschflugkörper vom Typ Taurus zu liefern. Sie haben eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern, damit könnten die Ukrainer sogar Ziele in Moskau treffen. In der öffentlichen Kommunikation bemühen sich aber beide Seiten, das Thema nicht mehr allzu hoch zu hängen. Scholz schließt – anders als der französische Präsident Emmanuel Macron – auch strikt aus, Nato-Soldaten in die Ukraine zu schicken.

    Zufrieden sind die Ukrainer hingegen darüber, dass die Scholz-Regierung ihnen im Verein mit den westlichen Verbündeten nun gestattet, mit von Deutschland gelieferten Waffen Ziele in Russland zu beschießen. Es geht vor allem darum, Angriffe auf die ostukrainische Großstadt Charkiw abzuwehren, die von russischem Territorium aus ausgeführt werden.

    Der Besuch Selenskyjs in Berlin am Dienstag ist der dritte in der deutschen Hauptstadt seit Beginn des russischen Angriffskriegs. Im Mai vergangenen Jahres war er bereits hier und schlug sehr versöhnliche Töne an nach den langen Streitereien über deutsche Waffenlieferungen. Im Februar dieses Jahres wiederum unterzeichneten er und Scholz ein bilaterales Sicherheitsabkommen, das der Ukraine eine langfristige Unterstützung garantiert.

    An diesem Dienstag spricht Selenskyj nicht nur bei der Wiederaufbaukonferenz, sondern später am Nachmittag auch im Deutschen Bundestag. „Ich danke Dir, Deutschland“, sagt er auch hier.