Berlin. Die milliardenschweren US-Hilfen geben den Menschen neue Hoffnung. Doch im wichtigsten Punkt kann sich die Ukraine nur selbst helfen.

In der Ukraine hat der Frühling begonnen. Im Süden und im Osten sind die Temperaturen mild, bisweilen wird es schon sommerlich warm, oft strahlt die Sonne an einem kornblumenblauen Himmel. Es ist ein krasser Gegensatz zum Krieg, der mit grimmiger Unbarmherzigkeit weitergeht. Die russischen Streitkräfte suchen und finden Schwachstellen in den personell ausgedünnten ukrainischen Verteidigungslinien.

Kürzlich ist ihnen im Raum Awdijiwka bei Otscheretyne ein überraschender Einbruch gelungen, aktuell stoßen sie dort weiter vor und sichern ihre Flanken ab. Der Druck auf Tschassiw Jar westlich von Bachmut hält weiter an. Noch ist das kein Indiz dafür, dass den Russen größere Geländegewinne erzielen können. Die Gefahr aber besteht, und sie wird mit jedem Tag größer, an dem es den Ukrainern nicht gelingt, genügend Munition und genügend Personal an die Front zu schicken.

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Ein Lichtblick für die Soldaten war die Entscheidung des US-Kongresses, nach so langem und zähem innenpolitischem Ringen ein neues Hilfspaket für die Ukraine zu schnüren; in der Folge kann bevorratete Munition freigegeben werden. Die Lieferung weitreichender Raketen des Typs ATACMS durch die USA kann den russischen Streitkräften weit hinter der Front empfindliche Schläge versetzen. Die anhaltende deutsche Unterstützung wird wertgeschätzt.

Ukraine-Krieg: Auch die deutsche Unterstützung wird wertgeschätzt

Jedoch braucht es mehr, um die russische Kriegsmaschinerie aufzuhalten, die durch Russlands rasche Umstellung auf Kriegswirtschaft angekurbelte Rüstungsproduktion und die üppigen Munitionslieferungen aus befreundeten Staaten wie Nordkorea geschmiert wird. Doch ein Problem müssen die Ukrainer selbst lösen, und das schnell: den Mangel an neuen Rekruten.

Jan Jessen ist Politik-Reporter und war mehrmals im Kriegsgebiet in der Ukraine.
Jan Jessen ist Politik-Reporter und war mehrmals im Kriegsgebiet in der Ukraine. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Viele kampferfahrene Soldaten sind tot oder so schwer verletzt, dass sie nicht mehr einsatzfähig sind. Die anderen sind ausgelaugt und müde. Trotz einiger Gesetzesänderungen, mit denen die Rekrutierungsregeln verschärft würden – unter anderem die Herabsetzung des Alters potenzieller neuer Rekruten – gelingt es noch immer nicht, die Brigaden ausreichend aufzustocken.

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Die Regierung steht vor einem Dilemma. Schickt sie Männer unter Zwang und mit aller Härte an die Waffe, verliert sie den Rückhalt in der Bevölkerung. Ohnehin vorhandene Risse könnten sich vertiefen und zu gesellschaftlichen Gräben werden. Andererseits kann sie die Soldaten an der Front nicht im Stich lassen. Es ist ein Dilemma.

Krieg als Naturereignis: Putin kann den Geist der Ukrainer nicht brechen

Die große Frage ist, wozu Moskau noch imstande ist. Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes, könnte in den kommenden Wochen zum Ziel einer größeren russischen Operation werden. Seit Wochen bombardieren die Russen die Stadt mit Raketen, Marschflugkörpern und Gleitbomben, immer wieder sterben Menschen.

Noch ist der Fluchtdruck nicht so groß, dass viele Menschen die Stadt verlassen. Sollte es den russischen Streitkräften aber gelingen, ihre Artillerie in die Peripherie der Stadt zu bringen, könnte eine Massenflucht wie im Februar 2022 die Folge sein. Indes hat sich in der Bevölkerung in diesem Frühling, so scheint es, eine gewisse Gleichmütigkeit breit gemacht. Der Krieg und der Tod werden wie Naturereignisse wahrgenommen, gegen die nicht viel auszurichten ist.

Die Menschen jenseits der frontnahen Städte versuchen ihren normalen Alltag aufrechtzuerhalten. Nicht selten ist Lachen auf den Straßen Charkiws, Odessas oder Kiews zu hören. Nach Bombenangriffen sind die Cafés schnell wieder voll. Wladimir Putin, so viel ist klar, kann den Geist der Menschen in der Ukraine nicht brechen.

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