Cherson. Zwei Wochen soll der 13-jährige Danylo ins Feriencamp auf die Krim reisen, doch er erlebt einen Horrortrip. Die Rettung ist waghalsig.

Als Alla Yacentyuk von dem Moment erzählt, als sie ihren Danylo wieder in die Arme schließen konnte, hält sie inne, fängt an zu weinen, hält ihren Jungen fest. Er redet tröstend auf sie ein, streichelt seiner Mutter über das Haar. Die Verbindung zwischen den beiden ist spürbar. Alla sagt, sie sei noch enger als vor der quälend langen Zeit, in der ihr Kind auf der von Russland besetzten Krim war – und sie nicht wusste, ob sie ihren Jungen jemals wiedersieht. Sie kann sich glücklich schätzen, dass Danylo wieder zu Hause ist. Noch immer sind Zehntausende ukrainische Kinder von ihren Eltern getrennt.

Cherson im Süden der Ukraine. Alla und Danylo Yacentyuk sitzen in einem kleinen Café der Stadt, die seit der Befreiung im November 2022 nahezu täglich von den russischen Streitkräften am anderen Ufer des Dnipro beschossen wird. Die beiden wollen ihre Geschichte erzählen. Es ist ihnen wichtig, weil sie nicht möchten, dass das Schicksal der Kinder in Vergessenheit gerät, die in Russland oder auf der Halbinsel Krim festgehalten werden. Es ist eine Geschichte über ein weiteres dunkles Kapitel des Krieges, mit dem sich bereits der Internationale Strafgerichtshof beschäftigt.

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Die Heimatstadt der Yacentyuks wird im März 2022 kurz nach dem Beginn des russischen Überfalls nahezu kampflos von den Invasoren eingenommen. Es beginnt eine bleierne Besatzungszeit, die von Furcht und Gewalt geprägt ist. Danylo besucht mit seinem jüngeren Bruder eine städtische Schule. Im September, als in der Region eine ukrainische Gegenoffensive beginnt, werben Lehrer dafür, die Kinder auf einen Erholungsurlaub auf der Krim zu schicken. Alla Yacentyuk möchte ihre Söhne nicht allein dorthin reisen lassen, sie misstraut den Russen.

Russland führt Familien in die Irre: „Danylo wollte das unbedingt“

„Aber Danylo wollte das unbedingt“, erinnnert sie sich. „Er war noch nie am Schwarzen Meer und viele seiner Freunde waren angemeldet worden.“ Weil eine erste Gruppe Schüler nach zwei Wochen auf der Krim wohlbehalten zurückgekehrt war, stimmte sie schließlich zu und unterschrieb in der Schule eine Betreuungsvollmacht. Am 8. Oktober reiste der damals 13-Jährige nach Jewpatorija an der Westküste der Halbinsel, die Russland vor zehn Jahren völkerrechtswidrig annektiert hat. Er sollte nur vierzehn Tage bleiben. Doch am Ende dauert es sechs Monate, bis er wieder zu Hause ist.

Immer wieder gibt es Berichte, dass ukrainische Kinder aus Ferienlagern nicht mehr zu ihren Familien zurück dürfen.
Immer wieder gibt es Berichte, dass ukrainische Kinder aus Ferienlagern nicht mehr zu ihren Familien zurück dürfen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Mit ihm seien 2000 andere Kinder aus Cherson auf die Krim gebracht worden, erinnert sich seine Mutter. Wie Hunderte andere wird Danylo im Feriencamp „Druschba“ („Freundschaft“) untergebracht, das zu Sowjetzeiten gebaut wurde. Es ist ein weitläufiger Komplex mit fünfstöckigen Gebäuden, auf Bildern wirkt es wie eine große Jugendherberge. Nach zwei Wochen versammelt die Leitung des Camps die Kinder in einem Veranstaltungsraum. „Sie haben uns gesagt, dass wir nicht nach Hause können“, erzählt Danylo. „Das war ein Schock für uns.“

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Etwa zur gleichen Zeit erhält seine Mutter abends einen Anruf. Es ist ein Lehrer. „Holt eure Kinder da sofort raus“, habe der Mann gesagt, dann sei die Verbindung abgebrochen, erzählt sie. Alla Yacentyuk gerät in Panik. Als sie am nächsten Tag den Schuldirektor zur Rede stellt, verspricht er ihr, die Kinder seien am 3. November zurück. Es ist eine Lüge. Im Feriencamp „Druschba“ sagen sie Danylo und den anderen, falls die Russen Cherson verließen, würden sie nie wieder zu den „Khokhols“ zurückkehren. Khokhol ist ein abfälliger russischer Begriff für Ukrainer. Am 11. November ist Cherson frei – und die Kinder gefangen.

Juristin erklärt Kalkül: „Kinder werden einer Gehirnwäsche unterzogen“

Danylo wird nach drei Monaten in ein anderes Camp verlegt. Dort sei es strenger zugegangen, erinnert er sich. „Wir mussten morgens die russische Nationalhymne singen.“ In der Schule wird ihnen eingetrichtert, dass die Krim nach der Annexion vor zehn Jahren aufgeblüht sei. „Wir sollten dankbar dafür sein, haben sie gesagt.“ Das ist eine gängige Praxis, berichtet Myroslava Kharchenko, Chefjuristin bei „Save Ukraine“. Die Kinder würden einer Gehirnwäsche unterzogen. „Es wird ihnen erzählt, dass die Ukraine ein gescheiteter Staat ist, dass wir Nazis sind und Kinder essen.“

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    Kharchenkos Organisation kümmert sich unter anderem um die Rückholung der ukrainischen Kinder und liefert dem Internationalen Strafgerichtshof Material für die Ermittlungen gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belova, die russische Beauftragte für Kinderrechte. Im März vergangenen Jahres hatten die Den Haager Richter einen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gegen die beiden erlassen. Der Vorwurf: Sie seien persönlich verantwortlich für Verschleppung von ukrainischen Kindern nach Russland.

    Wie viele ukrainische Kinder in Russland sind, ist unklar. „Save Ukraine“ hat rund 20.000 Fälle dokumentiert, bei denen Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Häufig wurden sie wie Danylo mit der Aussicht auf einen schönen Urlaub nach Russland oder auf die Krim gelockt. Entsprechende Aushänge haben auch wir, die Funke-Reporter, in befreiten Dörfern im Nordosten der Ukraine gesehen.

    Rund 744.000 ukrainische Kinder sollen sich in Russland befinden

    Die russische Kinderrechtsbeauftragte spricht von 744.000 ukrainischen Kindern in Russland selbst und in den aktuell besetzten Gebieten. Von diesen sind aber viele zusammen mit ihren Eltern. Häufig sind die Familien vor den Kämpfen zu Beginn der Invasion nach Russland geflohen. „Das war nicht freiwillig“, betont Myroslava Kharchenko. Die Fluchtkorridore Richtung Ukraine seien sehr gefährlich gewesen, weil sie ständig von den Russen beschossen worden seien.

    Anastasiia hält ihre Tochter Valeriia und den Sohn Maksym in den Armen. Auch sie kamen aus einem Feriencamp nicht mehr zurück.
    Anastasiia hält ihre Tochter Valeriia und den Sohn Maksym in den Armen. Auch sie kamen aus einem Feriencamp nicht mehr zurück. © REUTERS | VALENTYN OGIRENKO

    Danylo hat während der Zeit in den beiden Camps immer wieder Kontakt mit seiner Mutter, er kann mit ihr telefonieren. „Manchmal war er depressiv und traurig, aber meistens ganz in Ordnung“, erinnert sich die 31-Jährige. Er sei gut behandelt worden, insbesondere von jungen freiwilligen Betreuern aus St. Petersburg und Moskau, berichtet ihr Sohn. Im Februar 2023 nimmt seine Mutter Kontakt mit „Save Ukraine“ auf. Die Organisation tüftelt mit ihr einen Plan aus.

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    Alla Yacentyuk bekommt einen Pass, mit dem sie Ende März über Polen und Belarus nach Russland einreist. Dort wird sie vom Militärgeheimdienst verhört. Wie sie es mit „Save Ukraine“ geübt hat, äußert sie sich positiv zur russischen Besatzung, erklärt, sie habe Verwandte in Russland und wolle mit ihren Kindern auf der Krim leben. Sie kommt damit durch. Schließlich darf sie auf die Halbinsel, nach einer Reise von rund 3000 Kilometern. Luftlinie ist Cherson etwa 170 Kilometer von Jewpatorija entfernt.

    Am 6. April kommt sie zusammen mit einem Dutzend anderer Eltern im Camp an. Der Leiter der Camp-Verwaltung hält eine Rede, das russische Fernsehen filmt und benutzt Yacentyuk später für eine Propagandashow. Es ist ihr egal. Sie kann ihren Danylo endlich wieder in die Arme schließen. „Das war ein unglaubliches Gefühl, er war so gewachsen.“ Die Zahlen darüber, wie viele Kinder bislang aus Russland oder von der Krim zurückgeholt werden konnten, sind je nach Quelle unterschiedlich. Es ist die Rede von bis zu 511. „Save Ukraine“ hat 239 Kinder nach Hause gebracht.

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