Seit 25 Jahren ein Volk: Niemand muss mehr Angst vor Deutschland haben – auch wir sollten angstfrei sein. Ein Appell von Lars Haider.
Deutschland hat, gefühlt, einen ewigen Kanzler. Deutschland ist Fußball-Weltmeister. Und Deutschland steht vor historischen Herausforderungen, weil es einen gewaltigen Zug gen Westen gibt.
Die Parallelen zwischen der Zeit vor 25 Jahren und heute sind erstaunlich. Damals Helmut Kohl und die Einheit, jetzt Angela Merkel und die Flüchtlingsströme. Damals Euphorie und Glücksgefühle angesichts der überwundenen Teilung, jetzt begeisternde Willkommenskultur und ungeahnte Hilfsbereitschaft. Dazu, 1990 wie 2015: Große Sorgen vor der Zukunft, viele Vorbehalte und noch mehr Bedenken. Was wird aus Deutschland?
Sicher sagen kann man: An diesem 3. Oktober findet der erste Teil der gesamtdeutschen Geschichte einen Abschluss. Mit dem schönen Ergebnis, dass die Republik auf dem Weg zur Einheit große Schritte vorangekommen ist.
Ja, wir sind ein Volk, auch wenn die regionalen Unterschiede nach wie vor erheblich sein können. Aber es geht nicht mehr per se um ein West-Ost-Gefälle. Das Land hat überall Stärken und überall Schwächen, oft sind die alten, immer öfter die neuen Bundesländer vorn. Von außen wird Deutschland aber vor allem als eine starke Gemeinschaft mit einer neuen Rolle wahrgenommen. „Die Zeit des Bonner Biedermeiers geht zu Ende“, schrieb der damalige Chefredakteur Peter Kruse in seinem Kommentar am 3. Oktober 1990 auf der Titelseite des Hamburger Abendblatts. Und weiter: „Die Welt erwartet von dem nun souveränen Deutschland Mitverantwortung für die Neugestaltung Europas in Frieden und Freiheit. Welch eine Aufgabe, und deshalb sollten an diesem 3. Oktober auch die kühlen und die ängstlichen Herzen schneller schlagen.“
Das taten sie, und das tun sie hoffentlich weiter. Die Sätze von vor 25 Jahren passen auch heute, zum neuen Deutschland und seiner nächsten historischen Mission.
Die Ersten sprechen schon davon, dass der Zustrom von Flüchtlingen eine Aufgabe sein könnte, die sich mit der deutschen Wiedervereinigung vergleichen lässt. Wird 2015 der nächste Wendepunkt in unserer Geschichte? Richtig ist: Es geht damals wie heute um die Frage, was uns Freiheit und Frieden in Europa, und damit zwangsläufig in der globalisierten Welt, wert sind. Und es geht darum, wie wir uns um Menschen kümmern, die aus Gesellschaften kommen, in denen sie unterdrückt oder verfolgt wurden.
„Öffnen wir ihnen alle Chancen, die deutsche Erfolgsstory noch einmal zu schreiben“, formulierte Peter Kruse es 1990, und das könnte ebenfalls ein Motto für 2015 sein. Neu ist, dass die Menschen diesmal nicht aus dem anderen Teil Deutschlands, sondern aus einer anderen Welt stammen. Das macht natürlich einen, in erster Linie sprachlichen und kulturellen, Unterschied, ändert aber wenig an der grundsätzlichen Problematik. Deutschland wird sich nicht auf den Erfolgen der Wiedervereinigung ausruhen können, Deutschland steht vor dem nächsten Integrationsprozess.
Anders als vor 25 Jahren wissen wir Bürger allerdings jetzt, dass wir das schaffen können. So wie niemand mehr Angst vor Deutschland haben muss, muss Deutschland vor nichts mehr Angst haben, auch nicht vor nie gekannten Flüchtlingsströmen. Wer, wenn nicht wir, soll damit fertig werden? Die neue, wahrscheinlich wirklich historische Aufgabe trifft auf ein Volk, das gestärkt und hoffentlich immer noch dankbar aus der Vereinigung hervorgegangen ist. Und das sich in einer Art und Weise verändert hat, wie man es innerhalb eines Vierteljahrhunderts kaum hätte erwarten können.
Früher wurden die Deutschen für ihre Pünktlichkeit und Gründlichkeit respektiert, nicht selten gefürchtet. Heute werden sie für ihre Fröhlichkeit, für ihre Willkommenskultur, ja, sogar für das Spielerische ihres Fußballs gefeiert. Deutschland und die Deutschen sind beliebt, vielleicht so beliebt wie noch nie in ihrer Geschichte. Man kann das kritisch sehen, weil diese Beliebtheit, diese im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlose Bewunderung für Deutschland überall auf der Welt Sehnsüchte weckt. Man kann aber genauso gut stolz darauf sein, dass sich offenbar viele, viele Menschen nichts Sehnlicheres wünschen, als hier bei uns zu leben.
Kann es einen stärkeren Beweis für das Gelingen der deutschen Einheit geben? Wir sind offenbar nicht nur ein Volk, wir sind ein glückliches Volk geworden. Und wir sollten alles dafür tun, dass das so bleibt.