Abendblatt-Flüchtlingsreporter beim Bürgermeister: Es ging um Sprachkurse und Perspektiven – aber auch um islamistischen Terror.
Der Bürgermeister nahm sich eine Stunde Zeit, um ein auch für ihn ungewöhnliches Interview zu geben. Denn erstmals stellte er sich den Fragen von Flüchtlingen: Mays Albeer, 37, aus dem Irak, Sahar Raza, 28, aus Afghanistan, Michael Mengsteab, 44, aus Eritrea, Mohammed Shoaib Rezayi, 22, aus Afghanistan und Berj Baghdee Sar, 31, aus Syrien.
Mays Albeer: Herr Bürgermeister, das Schwierigste für uns Flüchtlinge ist das Warten und das Nichtstun. Leider dauert es oft sehr lange, bis die Behörden entscheiden, ob jemand bleiben, ob er arbeiten darf oder ob er gehen muss. Das kostet Deutschland viel Geld und uns viel Zeit. Warum geht es nicht schneller?
Olaf Scholz: Das ist eine gute Frage, über die deshalb seit Langem diskutiert wird. Vergangene Woche wurde beim Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt beschlossen, dass die Zahl der Mitarbeiter beim zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge massiv erhöht wird. Wir brauchen natürlich Fachleute, die aus- oder fortgebildet werden müssen, deswegen geht es leider nicht so schnell voran. Aber der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, der jetzt die Leitung übernommen hat, hat zugesagt, alles dafür zu tun, dass mehr und schneller ausgebildet werden kann.
Außerdem sorgen wir dafür, dass Flüchtlinge noch vor dem Abschluss ihres Verfahrens arbeiten dürfen. Wir bauen in Hamburg jetzt mit den Erfahrungen der Jugendberufsagentur eine Organisation auf, mit dem Ziel, Flüchtlinge mit einer Bleibeperspektive schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir wollen schnell erkennen, wer welche fachlichen Qualifikationen mitbringt, und den Menschen helfen, die bürokratischen Hürden zügig zu nehmen.
Sahar Raza: Ich habe die ersten Deutschkurse absolviert, kann jetzt aber nicht weitermachen, denn ich müsste 600 Euro dafür bezahlen, die ich nicht habe, weil ich nicht arbeiten darf. Warum ist das so?
Scholz: Künftig wird es für die Deutschkurse eine bessere Finanzierung geben. Die Mittel dafür werden deutlich aufgestockt. Auch das haben die Ministerpräsidenten durchgesetzt. Flüchtlinge mit einer Bleibeperspektive sollen in Zukunft auch vor der offiziellen Entscheidung Sprachkurse belegen können. In Hamburg haben wir bisher aus eigenen Mitteln geholfen.
Mays Albeer: Ich möchte arbeiten und mit meinem Mann unser eigenes Leben aufbauen, ohne Geld vom Staat bekommen zu müssen. Ich bin Irakerin und Ärztin – doch es ist gerade für Ärzte aus dem Irak und Afghanistan so kompliziert, die Abschlüsse anerkennen zu lassen. Kann man dieses Verfahren vereinfachen?
Scholz: Es gibt neue Gesetze – für die ich mich schon lange eingesetzt habe –, damit die Berufsabschlüsse anerkannt werden können. In Hamburg haben wir auch ein eigenes Anerkennungsgesetz. Allerdings müssen in jedem Einzelfall die beruflichen Fähigkeiten überprüft werden. Es gibt keine Sonderregelungen für Mediziner aus dem Irak und Afghanistan.
Manchmal sind auch die verschiedenen Wege der Berufsausbildung ein Problem. Ich kenne den Fall eines Diplom-Kochs aus Osteuropa, der seinen Meister machen wollte. Doch in Deutschland kennt man diesen Abschluss nicht, deshalb bekam er keine Förderung. Erst als wir im Bundesministerium klarstellten, dass der Titel dem eines Gesellen entspricht, wurde der Meisterkursus genehmigt. Mit der Zentralen Anlaufstelle Anerkennung haben wir eine Beratungsstelle geschaffen, die jeden Einzelnen auf dem Weg der Anerkennung unterstützt und im Einzelfall auch ein landesfinanziertes Stipendium vergeben kann. Nutzen Sie diese Beratungsmöglichkeiten!
Berj Baghdee Sar: Wer mindestens drei Jahre in Deutschland lebt, darf Ehepartner und Kinder nachholen, nicht aber die Eltern. Nun weiß ich, dass einige es doch geschafft haben, obwohl es nicht erlaubt ist. Wie kann ich legal meine Eltern aus Syrien holen?
Flüchtlinge: Impressionen aus Hamburg und Europa
Scholz: Grundsätzlich ist die Familie in Deutschland besonders geschützt, und als Familie gelten insoweit Eltern und ihre minderjährigen Kinder. Weitere Familienangehörige können ausnahmsweise und nur dann nachgeholt werden, wenn eine ganz besondere Fürsorgepflicht besteht.
Mohammed Shoaib Rezayi: Ich würde gern meinen Führerschein machen, aber die theoretische Prüfung kann man zwar beispielsweise auf Türkisch ablegen, aber nicht auf Persisch – warum?
Scholz: In der theoretischen Prüfung sind die Sprachen zugelassen, die in der EU am häufigsten gesprochen werden. Neben Deutsch insgesamt elf Sprachen. Arabisch gehört nicht dazu. Türkisch wird von einer Vielzahl der in Deutschland lebenden Menschen gesprochen, ebenso Russisch.
Michael Mengsteab: Viele Flüchtlinge aus Eritrea haben Schwierigkeiten mit den deutschen Gepflogenheiten und Regeln und dem Vorgehen der Behörden. Gerade weil so viele aus meiner Heimat nach Deutschland kommen: Wäre es möglich, die wichtigsten Informationen in unsere Muttersprache zu übersetzen?
Scholz: Unsere Behörden bemühen sich, Informationen in möglichst vielen Sprachen herauszugeben. Das ist in vielen Fällen, bei geläufigen Sprachen, problemlos, doch bei manchen Sprachen leider schwierig. Denn eine Behörde muss sicher sein, dass alles genau und korrekt übertragen wird und beschäftigt deshalb vor allem beglaubigte Übersetzer.
Mays Albeer: Wir alle haben festgestellt, dass es bei Behörden oft Glücksache ist, an wen man gerät. Ich habe meinen Mann kirchlich und standesamtlich in Bagdad geheiratet. Dennoch wurde ihm hier trotz Urkunden eine offizielle Bestätigung verweigert, dass wir ein Ehepaar sind. Wir brauchen sie aber für unsere Krankenversicherung. Als ich es dann noch einmal versuchte, hatte ich nach zehn Sekunden den Stempel. Gibt es da keine klaren Regeln?
Michael Mengsteab: Das ist nur ein Beispiel, wir alle haben so etwas Ähnliches erlebt. Das wundert uns, weil wir dachten, in Deutschland gebe es für alles eindeutige Vorschriften.
Scholz: Es stimmt: Deutschland ist ein Rechtsstaat, in dem Regeln eine große Bedeutung haben. Wenn es um ausländische Dokumente geht, ist das für die Behörde nicht immer ganz einfach, die zu überprüfen. Und Sie können natürlich nicht mal eben in den Irak reisen, um eine Beglaubigung zu holen. Doch im Grundsatz gilt: Eigentlich muss es beim gleichen Problem immer zur gleichen Entscheidung kommen.
Berj Baghdee Sar: Wissen Sie eigentlich, dass viele sich hier als Syrer ausgeben, um eine dreijährige Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, obwohl sie gar keine Syrer sind? Sie haben gar keine oder falsche Papiere. Jeder Syrer erkennt diese Menschen sofort an der Sprache, denn in der arabischen Aussprache gibt es riesige regionale Unterschiede. Warum wird das nicht kontrolliert?
Scholz: Das wird kontrolliert. Unsere Behörden achten darauf, aber es ist nicht immer einfach, das zu prüfen. Das gilt besonders kurz nach der Ankunft der Menschen. Und täglich müssen Tausende Entscheidungen getroffen werden. Ein Weg muss es sein, mit Leuten aus Syrien zusammenzuarbeiten.
Berj Baghdee Sar: Deutschland ist auch aus historischen Gründen so offen für Flüchtlinge. Gibt es einen Punkt, an dem Deutschland einmal Nein sagt und keine Flüchtlinge mehr aufnimmt? Polen nimmt zum Beispiel keine Flüchtlinge auf.
Scholz: Eines ist klar: Den Flüchtlingen, die jetzt nach Europa kommen und noch kommen werden, Schutz zu gewähren, ist eine gemeinsame europäische Aufgabe. Alle Staaten der EU müssen sich daran beteiligen. Es gibt Fortschritte, das hat der letzte EU-Gipfel gezeigt. Aber im Moment gibt es Staaten, die weniger Flüchtlinge aufgenommen haben als die Stadt Hamburg. Zweitens: Wer politisch oder religiös verfolgt wird oder vor dem Krieg flüchtet, muss sich und seine Familie retten können. Nur auf diese Gruppe können wir uns unter dem Stichwort Flucht konzentrieren. Auch andere Menschen mögen gute Gründe haben, in Deutschland leben zu wollen, aber das überstiege unsere Möglichkeiten. Wenn alle, die auf ein besseres Leben hoffen, aber nicht bedroht sind, zu uns kämen, dann würde Deutschlands Kraft nicht reichen. Für die Menschen vom Westbalkan zum Beispiel ist der Antrag auf Asyl deswegen keine Perspektive, um nach Deutschland zu kommen.
Den Flüchtlingen Schutz zu gewähren, ist keine leichte Sache. Das sieht man schon daran, dass wir sehr weitreichende Entscheidungen treffen müssen, damit im Winter niemand in einem Zelt schlafen muss. Vor zwei Jahren hätte ich gesagt, ich möchte niemanden in einer Halle unterbringen. Aber angesichts der großen Zahl der Flüchtlinge bin ich jetzt froh, wenn das gelingt. So verschieben sich die Maßstäbe, das muss man ganz offen sagen.
Mays Albeer: Das Dublin-Abkommen macht für mich keinen Sinn. Wenn das Erst-Einreiseland für den Asylantrag zuständig ist, wäre es praktisch unmöglich, legal als Flüchtling nach Deutschland einzureisen. Niemand aus einem Krisenland schafft es, in einem Flugzeug direkt nach Deutschland zu kommen. Aber das wäre der einzige Weg.
Scholz: Sie haben recht. Wenn wir das Dublin-Abkommen streng anwenden, kommt in Deutschland kaum ein Flüchtling an.
Mays Albeer: Manche Flüchtlinge schaffen es trotzdem, ins Land zu kommen. Man muss in Wahrheit also lügen.
Scholz: Ich habe schon im Frühjahr letzten Jahres gesagt, dass wir ein neues System für die Aufnahme und Verteilung in Europa brauchen. Das kann bedeuten, dass jemand, der in Amsterdam ankommt, sein Asylverfahren zum Beispiel in Polen betreiben muss. Das gefällt ihm vielleicht nicht so gut, aber dasselbe machen wir ja auch innerhalb Deutschlands. Und wichtig ist doch, dass er Schutz genießt. Mein zweiter Vorschlag war, dass ein in Polen oder Griechenland anerkannter Flüchtling die gleichen Rechte haben soll wie ein
Pole oder Grieche innerhalb der EU. Wer aus eigener Kraft in Deutschland einen Arbeitsplatz findet, kann diese Arbeit antreten. Aber es ergibt sich daraus kein Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt.
Berj Baghdee Sar: Ich bin unter anderem auch vor den IS-Terroristen aus Syrien geflohen. Jetzt habe ich gelesen, dass unter den nach Deutschland geflüchteten Syrern 4000 IS-Angehörige sind. Salafisten verteilen den Koran auf der Mönckebergstraße. Ich habe Angst, dass diese Leute auch etwas in Hamburg machen.
Mays Albeer: Ich habe auch Angst. Angst davor, dass aus vielleicht jetzt noch wenigen viele werden. Ich möchte meine Kinder vor denen schützen. Das dürfen wir nicht ignorieren. Ich bitte Sie, sehr ernsthaft darüber nachzudenken.
Mohammed Shoaib Rezayi: Ich war neulich am Hauptbahnhof, um als Freiwilliger bei der Ankunft von Flüchtlingen zu helfen. Dort ist es zu einer Schlägerei zwischen zwei Syrern gekommen, weil der eine den anderen als IS-Kämpfer der Dayesh-Gruppe identifiziert hatte. Können die Flüchtlinge nicht besser kontrolliert werden?
Scholz: Viele kommen jetzt nach Deutschland, weil wir ein weltoffenes, liberales und tolerantes Land sind. Und eins muss klar sein: Das werden wir auch bleiben. Wir verlangen von allen, die hier Schutz suchen, dass sie unsere Wertvorstellungen und Überzeugungen akzeptieren. Je besser wir bei der Identifizierung von Personen sind, desto eher können wir dieses Problem lösen. Polizei und Nachrichtendienste arbeiten daran herauszufinden, ob unter denen, die kommen, auch welche sind, die etwas mit Terrorismus zu tun haben. Das sieht man niemandem an.
Aber wir hoffen auch, dass Flüchtlinge, die Kenntnis über solche Leute haben, uns das auch sagen. Wenn jemand Straftaten begangen hat, gehen wir dagegen vor. Für mich ist sehr beruhigend, dass gerade Salafisten in Hamburg Muslime als ihre erbitterten Gegner haben. Die sagen: Was wollt ihr, wir haben doch ein tolles Land hier, unsere Religion ist wie alle anderen akzeptiert. Für eure Propaganda gibt es keinen Grund.
Berj Baghdee Sar: Ich bin mir in einem Fall zu 100 Prozent sicher, dass jemand, der IS-Kämpfer war, hier eine Aufenthaltserlaubnis bekommen hat.
Scholz: Wenn Sie uns das erzählen, dann wissen unsere Sicherheitsorgane damit umzugehen. Wir sind darauf angewiesen, dass die Flüchtlinge sich als Bürger begreifen und uns helfen. Wir stehen ja nicht neben jedem.
Mays Albeer: Die Ursache, warum Menschen auf die Flucht gehen, sind Kriege. Warum gibt es so viele Kriege? Woher kommen die Waffen, um die Kriege zu führen? Und wer kauft Öl vom IS, warum gibt es keine Sanktionen gegen diese Staaten?
Berj Baghdee Sar: Deutschland verkauft Waffen an die Kurden. Aber weiß Deutschland, dass die Kurden viele Waffen an radikale Gruppen weiterverkaufen? Der IS hat auch amerikanische und israelische Waffen. Warum?
Scholz: Dieses Thema treibt uns alle um. Wenn es um Waffenexporte geht, brauchen wir eine restriktive Politik. Es ist, wie Sie sagen. In der Welt werden unglaublich viele Waffen gehandelt, und sie kommen in Hände, in die sie nicht gehören. Und es stimmt, dass die IS-Terroristen im Irak Öl fördern können und auch Käufer finden. Es wird aber auch versucht, dies zu unterbinden, auch mit Sanktionen und mit nachrichtendienstlichen Mitteln.
Berj Baghdee Sar: Eine letzte Frage – was empfehlen Sie jemandem, der als Ausländer in Hamburg lebt, um erfolgreich zu sein?
Scholz: Das erste ist, die deutsche Sprache zu lernen. Das ist die Voraussetzung, um erfolgreich zu sein und aktiv am Leben hier teilzunehmen. Den jungen Leuten empfehle ich, dass sie sich in der Schule Mühe geben und versuchen, viel zu lernen. Allen anderen möchte ich den Rat geben, dass sie mit aller Kraft versuchen, sich beruflich zu integrieren. Es ist immer besser, eine Arbeit zu ergreifen, auch wenn sie zunächst unterhalb der eigenen Möglichkeiten ist. Ansonsten ist mein Rat: Öffnen Sie sich für eine der liberalsten und tolerantesten Gesellschaften der Welt! Wer seine Möglichkeiten nutzen will, hat hier bestimmt bessere Chancen, als an vielen anderen Orten.
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Aufgezeichnet von Peter Ulrich Meyer und Sven Kummereincke