Für viele Menschen war Griechenland immer eine Oase der Muße inmitten hoch organisierter Wirtschaftsräume. Das fordert Satiriker heraus.
Athen/Hamburg. Es war immer so schön. Man stieg in Kos oder Korfu oder Rhodos aus dem Flieger, suchte das Hotel und sah das Meer blinken. Der erste Spaziergang zum Kafenion: Da saßen zuverlässig die alten Männer, tranken Ouzo und spielten Tavli, Backgammon. Angeblich soll ja auch der Grieche Palamedes dieses Spiel erfunden haben, damit die vor Troja lagernden Soldaten sich die Zeit vertreiben konnten. Zeit schien es in Griechenland immer im Überfluss zu geben.
Solche Erfahrungen haben viele Tausend Touristen im Kopf. In diesen hektischen Wochen der Griechenland-Rettung werden sie neu gedeutet: Dass die Griechen so viel Zeit vergeudet haben, statt ihren Bankrott abzuwenden, wird pauschal gegen sie verwendet. Normalerweise sei er gerne Grieche, schreibt der in Deutschland lebende Michalis Pantelouris auf jetzt.de. "Vor allem während der Fußball-Europameisterschaft 2004 gab es nichts Besseres, als Grieche zu sein", für seine deutschen Freunde war er einfach DER Grieche. "Heute bin ich der einzige Grieche, dem sie Verabredungen absagen mit dem Betreff 'Ich griech das heute nicht hin'. Unter jeder zweiten Mail, die ich kriege, steht: 'Und mein Steuergeld überweise ich dir nachher.' Und ich sitze da und denke: Das ist nicht witzig. Das war die ersten Hundert Mal witzig, aber jetzt nicht mehr."
Griechenland vor Einigung in Regierungsfrage
Wahrscheinlich findet er deshalb auch das satirische Buch des Hamburger Autors Dietmar Bittrich jetzt nicht so witzig: "Griechify your life!" (Wie Sie Ihr Leben griechisieren). Im Vorwort heißt es: "Viel ist in letzter Zeit gemäkelt, gemodert, gekrittelt worden. Man vermisse den griechischen Beitrag, das Engagement. Was Griechenland denn beisteuere zur Europäischen Gemeinschaft? Ja, das ist doch offensichtlich: Heitere Sinnesfreude! Die Hingabe ans Vergnügen! Die Fähigkeit, das Leben als Geschenk zu nehmen!" Zusammen mit dem Illustrator Stefan Stutz macht Bittrich rund 70 Vorschläge, wie die Deutschen den Griechen da etwas abgucken könnten.
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Zum Beispiel das Schonen: "Computer schonen, Körper schonen, Geist schonen." Nach Bittrich laufen Bildschirmschoner in Griechenland "am längsten und häufigsten, in Regierungsbüros gewöhnlich den ganzen Tag über". Oder: "Während in Resteuropa, vor allem den mittleren und nördlichen Ländern, den Menschen per Zeitmanagement noch die letzte Muße genommen wird, gewährt man ihnen in Griechenland die ursprüngliche Freiheit." Züge kommen ohnehin nicht pünktlich, "die Fähre legt später ab oder ist bereits gesunken, die U-Bahn steht". Griechenland, die Mutter der Entschleunigung: In den langen Schlangen auf Ämtern und Behörden lernen die Menschen sich wenigstens noch kennen!
Wo Bittrich hinlangt, da kriegen alle ihr Fett ab: Griechenlands Beamte, Autofahrer ("Wir brauchen wirklich keinen TÜV"), Arbeitnehmer ("Erst Ausruhen, dann Pause, dann Grillen") und natürlich auch griechische Statistiker ("Fälschung ist eine Form der Kreativität"). Von den Griechen lernen heißt: Arbeitsanfällen gezielt vorbeugen, glücklich auf Pump leben, Verstorbenen posthum Lebenssinn geben, indem man ihre Rente kassiert; und natürlich "die Fliehkraft des Euro nutzen", der woanders herkommt.
Klar, das ist Satire. Und manche nicht griechischen Europäer werden sagen: Wer sich in den Schaden gewirtschaftet hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Auf der anderen Seite ist auch Bittrich klar, dass die Griechen, die in den vergangenen Wochen zu Tausenden demonstrierten, kein Leben in der Hängematte verbringen. Die Arbeitslosigkeit hat sich auf 17,6 Prozent hochgeschaukelt, bei jungen Leuten sogar auf 40 Prozent. Der aufgeblähte öffentliche Dienst verschlang zuletzt mehrere Dutzend Milliarden Euro im Jahr. Pro Einwohner leistete sich Griechenland fünfmal mehr Beamte als etwa Großbritannien, obwohl sein Bruttoinlandsprodukt nur wenig größer ist als das von Hessen.
Bei den Bildungs- und den Forschungsausgaben ist Griechenland ein Schlusslicht in der EU. Dafür belegt es unter den 180 korruptesten Ländern der Welt einen peinlichen Platz 78, vor Ghana und Ruanda. Laut Transparency International zahlt eine griechische Durchschnittsfamilie im Schnitt pro Jahr 1700 Euro Schmiergeld an Ärzte, Richter oder Behördenmitarbeiter. Auch die größte Handelsmarine der Welt segelt jetzt in die Krise.
Andere westeuropäische Volkswirtschaften haben in den beiden vergangenen Jahrzehnten schmerzhafte und umkämpfte Rationalisierungswellen zu spüren bekommen. Das war der Preis für die Modernisierung. In Deutschland, Großbritannien, Frankreich begann die Zeit des Controlling und des Outsourcing. Nicht in Griechenland. Dort haben sich zahlreiche Regierungen hemmungslos in die eigenen Taschen gewirtschaftet. Womöglich fühlten sie sich beim Anblick der schönen Ägäis so sicher wie der Potentat in Friedrich Schillers Gedicht "Der Ring des Polykrates": "Er stand auf seines Daches Zinnen, / Er schaute mit vergnügten Sinnen / auf das beherrschte Samos hin. 'Dies alles ist mir untertänig', / Begann er zu Ägyptens König, / 'Gestehe, dass ich glücklich bin.'"
Bekanntlich warnte der Ägypter ihn, dem Glück zu trauen, aber vergeblich, und schließlich "wendet sich der Gast mit Grausen".
Bisher haben die deutschen Urlauber - neben Briten die größte Gruppe unter Griechenlands jährlich 14 Millionen Touristen - dem Land die Treue gehalten. Denn in Griechenland fanden sie eine liebenswerte Ineffektivität, die es fast nirgendwo anders in der EU noch gibt. In jedem griechischen Ort ist noch eine Post zu finden - in unserem kostenkontrollierten Deutschland ist die nächste Postfiliale schon wegrationalisiert, bevor man einen Brief fertig geschrieben hat. In Frankreich oder Lettland sind WLAN-Verbindungen in Cafés längst selbstverständlich. In einem Internetcafé auf Kos baut sich die Serververbindung im Tempo einer rüstigen Meeresschnecke auf, sodass man ruhig erst mal schwimmen gehen kann.
Griechenland, das war der letzte sympathische, unaufgeregte Ruheraum Europas, in den die Härten und die Hektik der Globalisierung nicht einzudringen schienen. Ein Land wie geschaffen für Aussteiger. Man stelle sich ein Team der Unternehmensberatung Roland Berger an einer griechischen Bushaltestelle vor. Im zitternden Schatten der Olivenbäume, umweht vom herben Duft kretischer Ziegen, am Horizont sinkt die Sonne ins Meer.
Der Bus wird irgendwann genauso pünktlich fahren wie hier. Oder die Linie wird im Winterhalbjahr aus Kostengründen eingestellt. Griechenland wird durchkalkuliert.