Ein Jahr nach dem Tod von Staatspräsident Lech Kaczynski ist das Land gespalten. Es gibt neue Verschwörungstheorien über den Absturz.
Warschau. Ein Jahr nach dem tragischen Tod von Präsident Lech Kaczynski beim Flugzeugabsturz im russischen Smolensk bleibt Polen ein politisch tief gespaltenes Land. Die Wunden nach der Katastrophe sind immer noch nicht vernarbt. Ungeachtet kirchlicher Appelle droht bei den Gedenkfeiern am 10. April eine weitere Eskalation des Konflikts. Aus der Sicht der national-konservativen Opposition ist die Zeit für eine Auseinandersetzung durchaus günstig: Im Herbst wird ein neues Parlament gewählt. Oppositionschef Jaroslaw Kaczynski, Zwillingsbruder des verunglückten Staatsoberhauptes, sieht im Gedenktag eine gute Gelegenheit, bei den national-patriotischen Wählern gegen das liberal-konservative Regierungslager von Ministerpräsident Donald Tusk zu punkten. Allein in Warschau wollen bis zu 100.000 Kaczynski-Anhänger demonstrieren. Transparente wie „Tusk vor Staatstribunal“ und „Tusk + Putin = Lüge“ gehören bei solchen Anlässen zur Standardausrüstung der Teilnehmer.
Die polnische Regierungsmaschine mit Lech Kaczynski, seiner Frau und 94 anderen Prominenten aus Politik, Kirche und Militär war beim Anflug auf den Flughafen in Smolensk im dichten Nebel abgestürzt und zerschellt. Die Delegation befand sich auf dem Weg nach Katyn, dem Ort, wo der russische Geheimdienst im Frühling 1940 Tausende polnische Offiziere ermordet hatte.
Schon diese Reise war geheimnisumwittert. Denn drei Tage zuvor war Regierungschef Tusk zu einem Gedenken mit Russlands Premier Wladimir Putin nach Smolensk gereist. Kaczynskis Flug schien nach dem Motto zu erfolgen: Was der kann, kann ich auch. Offenbar wollte auch der Staatspräsident seine Art des Katyn-Gedenkens unbedingt durchsetzen. Daraus sind Theorien entstanden, er habe unbedingt auf einer Landung im nebelverhangenen Smolensk bestanden. Die russische Regierung hat auch in diesen Tagen wieder mangelnde Zusammenarbeit bei der Aufklärung der Tragödie beklagt. So habe Polen bislang nicht die Abschriften der Dialoge im Cockpit übergeben, die ein Flugschreiber aufgezeichnet hatte, sagte der Sprecher der nationalen Ermittlungsbehörde, Wladimir Markin. Auch habe Russland noch nicht von allen Funkgesprächen mit der Unglücksmaschine zum Zeitpunkt des Absturzes Abschriften erhalten.
Russland und Polen waren in ihren jeweiligen Abschlussberichten zu unterschiedlichen Bewertungen der Katastrophe gekommen. So gab Warschau den russischen Fluglotsen am Flughafen Smolensk eine erhebliche Mitschuld, da sie die Piloten im dichten Nebel unzureichend beim Landeversuch unterstützt hätten. Moskau hatte hingegen die gesamte Verantwortung der polnischen Seite zugewiesen. Der polnische Luftwaffenchef Andrzej Blasik soll mit 0,6 Promille Alkohol im Blut die Piloten trotz Warnung der russischen Flugüberwachung zur Landung genötigt haben.
„Wir wollen die Wahrheit“, sagte Jaroslaw Kaczynski jetzt nach einem Treffen seiner Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Warschau. Der nationalkonservative Politiker hat Tusk wiederholt vorgeworfen, moralisch und politisch für die Katastrophe verantwortlich zu sein. Seine Begründung: Tusks Auseinandersetzung mit Lech Kaczynski soll einen gemeinsamen Besuch verhindert haben. Nachdem sich Tusk und Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin am 7. April 2010 in Katyn getroffen hatten, endete Kaczynskis Flug drei Tage später mit einem Desaster. In einem demokratischen Land wäre der Regierungschef danach längst zurückgetreten, sagt Jaroslaw Kaczynski und fordert Tusks Kopf.
Der liberale Regierungschef steht nicht allein auf Kaczynskis schwarzer Liste. Warschaus Zustimmung zu Ermittlungen durch Russland hält der national-konservative Politiker für einen Kardinalfehler. Polen hätte internationale Organisationen einschalten sollen, um den Russen „auf die Finger zu schauen“, argumentiert die Opposition. In den klerikal-nationalistischen Blättern wimmelt es von abstrusen Verschwörungstheorien, deren Autoren einen Anschlag, etwa durch künstlich erzeugten Nebel, für möglich halten.
Mit einer moderaten Politik versucht Polens Präsident Bronislaw Komorowski die Gemüter zu beruhigen. Seine Landsleute könnten doch an einem „Zustand permanenter Trauer“ nicht interessiert sein, sagte das Staatsoberhaupt. Nach einem Jahr sei es an der Zeit, die Trauerzeit zu beenden. Seine Frau Anna reist bereits am Vortag des Jahrestages mit Familien der Opfer nach Smolensk, um am Unglücksort der Toten zu gedenken. Doch nur ein Teil der Angehörigen hat sich bereiterklärt, an der Reise teilzunehmen. Familien, die Kaczynski nahe stehen, setzen auf Totalverweigerung. „Wir begehen den Tag im eigenen Kreis“, sagt PiS-Parlamentarier Andrzej Zielinski.
Komorowski hält trotz mancher Rückschläge an seiner Politik des Dialogs mit Moskau fest. Einen Tag nach dem traurigen Jahrestag wird er zusammen mit seinem russischen Kollegen Dmitri Medwedew in Smolensk und Katyn der Opfer gedenken. Über den Missbrauch des Smolensk-Traumas für den politischen Machtkampf hat sich inzwischen auch die katholische Kirche besorgt gezeigt. Die polnische Bischofskonferenz warnte in einem Hirtenbrief die Gläubigen davor, „sich gegenseitig anzuschwärzen“. Der Metropolit von Warschau, Kardinal Kazimierz Nycz, mahnt: „Der Friedhof ist weder unser Gotteshaus noch unser Zuhause. Wir alle müssen zum Leben zurückkehren.“