Bundesregierung und SPD feiern das Ende des Verhandlungsmarathons. Die Grünen und Experten reden vom Gang vor das Bundesverfassungsgericht.
Berlin/Hamburg. Die Grünen sind davon überzeugt, dass der von Union, FDP und SPD gefundene Kompromiss zu Hartz IV erneut das Bundesverfassungsgericht beschäftigen wird. Die geplante Aufstockung des Regelsatzes erst um fünf und dann um drei Euro im Jahr 2012 erfüllt nach Ansicht der Grünen noch nicht die Vorgaben des Verfassungsgerichts. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn sagte: „Wir sehen uns wieder in Karlsruhe.“ Fraktionschefin Renate Künast nannte den Gang nach Karlsruhe „so sicher wie das Amen in der Kirche“. Zu erneuten Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht wird es nach Einschätzung der Grünen am ehesten über den Instanzenweg der Sozialgerichte kommen. Für ein Normenkontrollverfahren brauche es hingegen mehr als die Fraktionen von Grünen und Linken, sagte Kuhn. Klagen könnten auch von den Bundesländern eingereicht werden.
Künast und Kuhn hatten die letzte Verhandlungsrunde in der Nacht zum Montag verlassen, als sich für sie abzeichnete, dass die anderen drei Verhandlungspartner den Kompromiss zum Regelsatz abschließen würden. Demnach bleibt es bei der vorgesehenen Erhöhung um fünf auf 364 Euro im Monat rückwirkend zum 1. Januar und einer weiteren Anhebung um drei Euro im nächsten Jahr sowie eine regelmäßige Anpassung an die Inflationsrate. Dies mache es aus Sicht der Grünen nicht verfassungskonformer. Künast sagte: Dafür habe sie nicht die Hand heben können.
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Die Einigung zur Hartz-IV-Reform halten Experten für verfassungswidrig. „So wie es jetzt aussieht, werden die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts zur Berechnung der Hartz-IV-Regelleistung nicht erfüllt“, sagte Max Eppelein, Justiziar beim DGB Rechtsschutz in Kassel, dem epd. „Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner im vergangenen Jahr verkündeten Entscheidung verlangt, dass die Berechnung der Hartz-IV-Regelleistung transparent, nachprüfbar und realitätsgerecht sein muss“, erklärte Eppelein. Dies sei aber weiterhin nicht der Fall. Viele Ursprungsdaten zur genauen Berechnung des Bedarfs von Hartz-IV-Beziehern würden gar nicht veröffentlicht. „Wie soll man da die Regelleistungshöhe überprüfen können“, sagte Eppelein. Unklar sei auch, ob die geplanten Bildungsgutscheine im Einklang mit dem Grundgesetz sind.
„Gravierend ist, dass die Bundesregierung gar nicht ermittelt hat, was Kinder aus Hartz-IV-Familien genau benötigen und verbrauchen“, sagte Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der Fachhochschule Koblenz. Dabei habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom Februar 2010 entschieden, dass der Bedarf von Kindern genau festgestellt werden muss. Kritisch sieht Sell auch die Einigung, jeweils 400 Millionen Euro für die nächsten drei Jahre zusätzlich für Kinderleistungen auszugeben. Damit sollen Schulsozialarbeiter und ein Mittagessen finanziert werden. „Was haben zusätzliche Sozialarbeiter mit Hartz IV zu tun? Und was passiert nach drei Jahren, wenn die Mittel nicht mehr fließen?“, fragte Sell. Hinzu komme, dass es in vielen Schulen – insbesondere in Westdeutschland – wegen fehlender Küchen gar nicht die Möglichkeit gebe, ein Mittagessen zu erhalten.
Auch bei der Berechnung des Bedarfs Erwachsener sieht Sell erhebliche Mängel. Um die Regelleistung ermitteln zu können, müsse zuvor der Bedarf der ärmsten 15 Prozent der Bevölkerung festgestellt werden. Empfänger von Sozialgeldleistungen dürfen hier aber nicht mitgezählt werden. „Das Bundesverfassungsgericht hatte der Politik aufgegeben, dass auch Hartz-IV-Aufstocker und Menschen in verdeckter Armut bei der Bedarfsfeststellung heraus gerechnet werden müssten“, sagte Sell. Dies sei aber nicht geschehen.
Nach SPD-Parteichef Sigmar Gabriel hat auch NRW-Sozialminister Guntram Schneider (SPD) „große Bedenken“ mit Blick auf die geplante Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze geäußert. Er habe Zweifel, ob die generelle Erhöhung der monatlichen Regelsätze den Vorgaben der Verfassungsrichter entspreche, sagte Schneider. Nach seinen Worten wird die rot-grüne NRW-Landesregierung am Dienstagabend entscheiden, wie sie sich bei der kommenden Abstimmung im Bundesrat verhalten wird.
Nach der Einigung auf die Hartz-IV-Reform in der Nacht von Sonntag auf Montag hatte bereits der SPD-Parteivorsitzende Gabriel die Berechnung der Regelsätze durch die Bundesregierung in Frage gestellt. „Ich bin ziemlich sicher, dass wir wieder einer Klage bekommen werden“, sagte er im Deutschlandfunk. Das Risiko, dass die Regelsatz-Berechnung erneut vom Bundesverfassungsgericht beanstandet werde, trage die Bundesregierung.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich mit dem Verhandlungsergebnis „sehr zufrieden“. FDP-Generalsekretär Christian Lindner nannte den Kompromiss im Deutschlandfunk ein „ordentliches Paket“. Die Linkspartei nannte das Ergebnis einen „Hohn“. Auch Sozialverbände übten harsche Kritik. Der Paritätische Wohlfahrtsverband nannte den Kompromiss die „erbärmlichste Farce“ in der deutschen Sozialpolitik. Die Regelsätze seien weder bedarfsgerecht noch verfassungskonform. Die Diakonie begrüßte das Ende der „Hängepartie“ bei Hartz IV. Die fünf Euro, auf die der Regelsatz zunächst erhöht wird, lägen allerdings weit unter dem von der Diakonie geforderten Betrag, sagte Präsident Johannes Stockmeier.
Der Sozialverband Deutschland kritisierte, mit der „Minilösung“ sei „eine große Chance für überfällige sozialpolitische Korrekturen vertan“ worden. Der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, Thomas Beyer, äußerte ebenfalls Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Kompromisses. Die Hartz-IV-Reform soll nun voraussichtlich an diesem Freitag in einer Sondersitzung des Bundesrats beschlossen werden. Vorher muss der Bundestag zustimmen.