Starreporter Bob Woodward legt in seinem Buch die chaotischen Verhältnisse in Barack Obamas Regierung offen. Obamas Berater sorgen für Verwirrung.
Hamburg/Washington. Das US-Magazin „Time“ gab am Wochenende sogar die Titelstory dafür aus: „Finishing The Job In Afghanistan“. Reporter Joe Klein berichtet, dass der amerikanische Botschafter in Kabul, Karl Eikenberry, jetzt zum ersten Mal an einer Schura (einem Ältestenrat) in Zhari in der Provinz Kandahar teilnehmen konnte. „Ich war schon in allen 34 Provinzen, nur nicht hier, weil die Taliban es verhinderten“, wird Eikenberry zitiert. Für die Taliban sei Zhari „homeland“ gewesen und für alle anderen so gefährlich, dass selbst der afghanische Distrikts-Gouverneur sein Büro innerhalb der US-Militärbasis Wilson betrieb.
Im vergangenen Vierteljahr jedoch habe sich die Lage erkennbar verbessert, schreibt Klein. Nato- und US-Truppen hätten die Region „gesichert“, diverse Waffenlager ausgehoben. Die Ältesten trauten sich erstmals wieder, überhaupt eine Schura abzuhalten, Märkte seien neu eröffnet worden, und viele afghanische Zivilisten seien jetzt für fünf US-Dollar am Tag bereit, an Aufbauprojekten mitzuarbeiten.
Solche Geschichten kommen nicht von ungefähr. Die Regierung von US-Präsident Barack Obama muss Erfolge vorzeigen, zumindest am Hindukusch. Auf dem Prüfstein steht die Strategie-Direktive für Afghanistan, die Obama seinen Militärs und Sicherheitsberatern im Dezember 2009 nach monatelangem Gerangel diktiert hatte. Diese hitzige und kontroverse Entscheidungsfindung beschreibt Starreporter Bob Woodward in seinem neuen Buch „Obamas Kriege“, das im September in den USA hohe Wellen schlug und jetzt auf Deutsch vorliegt.
Watergate-Enthüler Woodward stützt sich auf Interviews – auch mit Obama
Zum ersten Mal hatte ein US-Präsident seine eigene Kriegs-Strategie verfasst, statt dies seinem Verteidigungsminister und seinen Kommandeuren zu überlassen. Woodward, der von 1972 an zusammen mit Carl Bernstein den Watergate-Skandal aufdeckte und dafür den Pulitzer-Preis erhielt, stützt sich auf zahlreiche Interviews (darunter auch mit Obama), auf vertrauliche Gespräche, er konnte geheime Memos und Positionspapiere sichten.
Sein Buch ist ein Lehrstück über die hartnäckige Verteidigung von Experten-Erbhöfen, Spezialwissen und Einfluss-Sphären gegenüber einem Präsidenten, der neue Ansprüche stellt und den Kurs wechseln will. Vor allem aber illustriert es die Schwierigkeit, einen „asymmetrischen“ Krieg ohne klare Front und ohne klar lokalisierbaren Gegner zu beurteilen; einen Krieg, den niemand in Amerika mehr will, der sich aber noch weitere Jahre erfolglos hinziehen könnte.
Was heißt in diesem Krieg überhaupt Erfolg? Im Wahlkampf hatte Obama den Rückzug aus dem Irak und die Konzentration auf Afghanistan versprochen. Er vermeidet es, von „Sieg“ zu sprechen. Im Verlauf der Strategiedebatten prägte er den Ausdruck „die Taliban zermürben“. Er denke über den Krieg in Afghanistan „nicht in den klassischen Begriffen“ wie verlieren oder gewinnen, sagte er in einem Interview mit Woodward. Ihm gehe es vor allem darum, „ob wir erfolgreich eine Strategie verfolgen, bei der das Land am Ende stärker als schwächer ist“.
Schon das war anfangs keineswegs Konsens. Was in Obamas Nationalem Sicherheitsrat aufbrach, waren Zwietracht, Grabenkämpfe und Misstrauen. Selten ist der zum Teil persönliche und eifersüchtige Knatsch zwischen engsten Präsidenten-Mitarbeitern so offen dokumentiert worden.
Die Berater nannten sich untereinander „Bastard"
Sicherheitsberater General James Jones bezeichnete Obamas Stab, vor allem Chef Rahm Emanuel, Campaigner David Axelrod und Sprecher Robert Gibbs, nur als „Wasserkäfer“, „Mafia“ oder „Politbüro“. Er selbst gab keine Ruhe, bis er den Konkurrenten Mark Lippert aus dem Team gebissen hatte. Thomas Donilon (Stv. Nationaler Sicherheitsberater) befand, jeder Fünftklässler schreibe bessere Memos als Spitzendiplomat Richard Holbrooke. Donilon selbst galt bei Verteidigungsminister Robert Gates als „Katastrophe“. Vizepräsident Joseph Biden nannte Holbrooke „den egoistischsten Bastard, den ich je erlebt habe“. General David Petraeus redete nicht mit Axelrod („Tatsachenverdreher“), während Axelrod Außenministerin Hillary Clinton zutiefst misstraute.
Ein unbefangener Teilnehmer musste sich in diesem Wespennest fühlen wie in Grimms Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“. Ein geringer Trost ist, dass Woodward bei George W. Bush und seinen Beratern ähnliche Beobachtungen machte. In seinem 537-Seiten-Werk „Die Macht der Verdrängung“ (2007) beschrieb Woodward eine Administration, deren Spitzenleute so zerstritten sind, dass sie kaum mehr miteinander sprechen.
Während Bush und Strategen, Woodward zufolge, dabei die Wirklichkeit im Irakkrieg ausblendeten, galt für Obamas Team eher das Gegenteil: Es sah in Afghanistan zu viele Baustellen. Bei der Pentagon-Fraktion – Gates, Admiral Michael Mullen als Leiter der Stabschefs, den Generälen David Petraeus und Stanley McChrystal – nährte das den Hang zu strategischen und taktischen Großprojekten; die Militärs beharrten sogar noch nach Obamas Direktive auf einer umfangreichen Truppen- und Mittelaufstockung.
Die Gegenfraktion – Obamas Stab, Geheimdienstchefs, Diplomaten des Außenministeriums und einige Sicherheitsberater – suchte statt dessen entschlackte Lösungen – nicht weniger problematisch. Im Irak hatte Petraeus, damals Chef des Zentralkommandos der US-Streitkräfte, mit dem Konzept der Aufstandsbekämpfung Erfolge errungen: Die einheimische Bevölkerung sollte durch militärische Präsenz vor ständigen Anschlägen geschützt werden. Nach und nach hatten sich Oppositionsgruppen und einflussreiche Clans im Irak darauf eingelassen, an Wahlen teilzunehmen und eine legitimierte Regierung zu unterstützen. Auch die sunnitischen Muslime wollten nicht, dass ausländische Aufständische (Al-Qaida) im Land die Oberhand gewann.
Der Oberkommandierende McChrystal forderte immer mehr Truppen
Das Problem: Der Irak war, anders als Afghanistan, ein relativ gut strukturiertes Land. Dennoch setzte McChrystal als damaliger Oberkommandierender in Afghanistan wieder auf Aufstandsbekämpfung. Anfang September 2009 stellte er dem Sicherheitsrat ein Konzept vor, das ein umfangreiches und mehrjähriges Engagement der USA in Afghanistan bedeutet hätte. Er forderte nicht nur die Entsendung zusätzlicher 40.000 US-Soldaten, sondern auch den Ausbau der afghanischen Sicherheitskräfte (Polizei und Armee) auf 400.000 Mann. Ziel sei ein Verhältnis von einem Soldaten/Polizisten auf 40 oder 50 afghanische Zivilisten. Bei einer Bevölkerung von 28,4 Millionen Afghanen hieß das: 400.000 einheimische Sicherheitskräfte plus 148.000 US- und Nato-Truppen.
Darüber hinaus seien Zusatzkräfte (Übersetzer, Logistiker usw.) notwendig. Für Petraeus wie auch McChrystal mündete die Aufstandsbekämpfung auch in das „Nation Buildung“, eine Verbesserung der afghanischen Verwaltung, Bekämpfung der Korruption, wirtschaftliche Stabilisierung. Das Konzept sollte nach 18 bzw. 24 Monaten überprüft werden.
Das war nicht in Obamas Sinn. Der Präsident, damals schon belastet mit der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise der USA, reagierte ungehalten und sprach von „einer großen Schwäche“ des Plans. McChrystals Konzept würde dem Haushalt in den nächsten Jahren Ausgaben in Höhe von 889 Milliarden US-Dollar allein für Afghanistan bescheren. „Ich will keine weiteren zehn Jahre. Ich betreibe hier keine langfristigen Maßnahmen zum ,Nation Building’. Ich gebe keine Billion Dollar aus“, sagte Obama.
„Es war, als schwebten die Geister aus Vietnam und dem Irak durch den Raum und versuchten, die Geschichte zu wiederholen, die Zeit, in der das Militär die Truppenstärken praktisch diktieren konnten“, schreibt Woodward.
Allein die Ausbildung der neuen afghanischen Soldaten hätte, wie Vizepräsident Joseph Biden den Generälen vorrechnete, rund sechs Jahre gedauert, die der Polizisten sogar noch länger, da rund 80 Prozent den Dienst nach kurzer Zeit wieder quittierten. Und: Mit zusätzlichen 40.000 US-Soldaten würde die Stärke der Sowjet-Truppen (108.000) erreicht, die 1989 ohne Sieg wieder abziehen mussten. Obama bemängelte auch, der Plan enthalte keinerlei Konzept für Pakistan und Wasiristan, das Rückzugsgebiet von Talibankämpfern und Al-Qaida-Terroristen. Auf McChrystals Power-Point-Karte war dort nur eine leere „blaue Blase“, mokierte sich Sicherheitsberater Antony Blinken.
Vizepräsident Biden warnte vor einer „Vietnamisierung“ Afghanistans
Woodward zufolge ließ sich der Präsident trotz anfangs erkennbarer Unerfahrenheit von den Zerwürfnissen seiner Experten nicht ablenken. Das Ziel der USA sei, Al-Qaida als zentrale Bedrohung „zu besiegen und zu zerschlagen“. In Afghanistan sei das Ziel, die Taliban zu zermürben und sie so zu schwächen, dass die Afghanen das Problem selbst in den Griff bekommen. Um das zu erreichen, schwebte Obama eine zentrale Angriffswelle über weniger als ein Jahr vor. Er forderte mehrere Optionen und vor allem eine klare Exit-Strategie.
Aber er bekam sie nicht. Die beteiligten Berater, Militärs und Regierungsvertreter seien „in der Analyse stark, bei den Lösungsvorschlägen aber schwach“, schreibt Woodward. Sie zeichneten sich – mit wenigen Ausnahmen – vor allem durch Spezialwissen aus, aber nicht als Visionäre angesichts eines neuen Typs Krieg. Alte Gespenster waren nicht zu bannen.
Vizepräsident Joe Biden, Jahrgang 1942, warnte vor einer „Vietnamisierung“ Afghanistans, wenn Richard Nixons Fehler in den Siebzigern wiederholt würde: Um US-Truppen schnell aus dem verlustreichen Krieg zurückzuziehen, hatte Nixon damals einer schwachen, korrupten Clique in Saigon die Verteidigung überlassen, der sie nicht gewachsen war. Biden schlug für Afghanistan das Konzept der „Terrorbekämpfung Plus“ vor. Es legte den Schwerpunkt vor allem auf überraschende, schnelle Operationen zur gezielten Gefangennahme oder Ausschaltung von Terroristen durch militärische/geheimdienstliche Spezialeinheiten. Biden befürwortete eine Truppenaufstockung von nur 20.000 Mann, gleichzeitig sollte mehr Druck auf die Regierung von Hamid Karsai ausgeübt werden.
Karsai allerdings, hier waren sich einmal alle einig, war und ist ein Schwachpunkt (ebenso wie Pakistans Präsident Zardari). Geheimdienstmitarbeiter sprachen offen davon, dass der afghanische Präsident „manisch depressiv“ sei. „Mal nimmt er seine Medikamente, mal nicht“, zitiert Woodward den Botschafter Eikenberry. Das Verhältnis der Diplomaten Eikenberry und Holbrooke zu Karsai galt als rettungslos gestört, seit sie ihn auf massive Unstimmigkeiten bei der letzten Parlamentswahl in Afghanistan ansprachen. Karsai empörte sich: „Das ist eine britisch-amerikanische Verschwörung.“
Überraschend: Außenministerin Clinton stellte sich auf die Seite des Militärs
Bemerkenswert ist, dass Außenministerin Hillary Clinton sich in der Frage der Truppenaufstockung auf die Seite der Militärs stellte. Und dass beide verfeindeten Lager von einer klaren Amerikanisierung des Krieges ausgingen. Die Nato-Verbündeten, von denen etliche damals bereits ihren Rückzug angekündigt hatten, spielten für die Runde kaum mehr eine Rolle.
Den Kompromiss, für den sich Obama am Ende entschied, bezeichneten viele Demokraten als „faul“: 30.000 Mann plus im Rahmen einer erweiterten Offensive von 18 bis 24 Monaten. Der Rückzug beginnt bereits im Juli 2011, „auf der Grundlage der tatsächlichen Fortschritte vor Ort“. Die Übergabe an afghanische Instanzen wird „auf einen Zeitraum von 18 bis 24 Monaten von Juli 2009 an beschleunigt“. Bei den zivilen Hilfen konzentriere man sich „auf das Realistische“. Von Afghanen gestützte Wiedereingliederungs- und Aussöhnungsversuche werden „unterstützt“. (Das Originaldokument ist am Schluss des Buches abgedruckt.)
Deutsche Experten sind geteilter Meinung darüber. Marc Lindemann, Bundeswehr-Hauptmann der Reserve und Buchautor („Unter Beschuss“, Econ, 2010) sieht keine andere Alternative, als das Nation Building in Afghanistan einzustellen und statt dessen mit traditionellen örtlichen Autoritäten zusammenzuarbeiten. Selbst ein Warlord wie der Usbekengeneral Dostum könne möglicherweise, falls er „unter Kontrolle“ zu halten sei, für die Befriedung eines Gebiets sorgen und damit ausländische Truppen entlasten.
Der Hamburger Journalist und Aghanistan-Reporter Marc Thörner („Afghanistan Code“, Edition Nautilus, 2010) sieht Obamas neue Strategie hingegen kritisch: als einen Rückgriff auf die Methoden der europäischen Kolonialgeschichte. „Im besetzten Land... verbünden sich Nato-Militärs und Isaf-Beamte mit Warlords..., mit konservativen Mullahs und all jenen, die eine Bevölkerung scheinbar im Griff haben“, schreibt er.
Woodwards Buch berührt große, ungeklärte Fragen. Wird der moderne, asymmetrische Krieg, der mit einem „regionalen Konflikt“ beginnt, nur noch von verdeckt operierenden Spezialeinheiten entschieden? Heiligt der Zweck – die Eindämmung des Terrors – auch das Mittel, sich mit vormodernen, bewaffneten Stammesfürsten zu verbünden, sie zu finanzieren? Und warum sind diplomatische Großoffensiven, in Pakistan/Afghanistan etwa in Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga, immer nur das Stiefkind neben militärischer Gewalt?
Bob Woodward: Obamas Kriege. Zerreißprobe einer Präsidentschaft, DVA, 490 Seiten, 24,99 Euro.