80 Jahre und kein bisschen leise: Heiner Geißler, Ex-Generalsekretär der CDU, rechnet mit der Ökonomisierung unseres täglichen Lebens ab.

Hamburg. Heiner Geißler , der ehemalige Generalsekretär der CDU, ist bekannt für seine offenen Worte. An diesem Mittwoch wird der streitbare Mann 80 Jahre alt und macht auch zu diesem Anlass seinem Ruf alle Ehre. Er habe keine Angst vor dem Tod, bekennt Geißler in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau . Vielmehr sei er gespannt, „weil ich nicht weiß, was passiert“. Allerdings denke er noch gar nicht ans Sterben. „Sollte ich krank und gebrechlich sein, kommt vielleicht mal der Punkt, wo ich sage: ich mag nicht mehr.“ Aber dieser Punkt sei noch außer Sichtweite.

+++ PORTRÄT VON ABENDBLATT-KORREPONDENTIN BARBARA MÖLLER +++

Zugleich mischte Geißler sich auf die ihm eigene Art in die aktuelle gesellschaftspolitische Debatte um sexuellen Missbrauch an kirchlichen Schulen ein. So kritisiert der 80-Jährige Sexualmoral der katholischen Kirche als verlogen. „Das Sexualleben steht bei ihr unter dem Verdacht etwas potenziell Schlechtes zu sein“, sagt Geißler. Zugleich habe die Kirche in Sexualfragen stets strenge Maßstäbe an sich und ihre Mitglieder angelegt. Die inzwischen bekanntgewordenen Missbrauchsfälle zeigten jedoch, dass Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklafften. Um ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, müsse die Kirche „von ihrem hohen Ross herunter“.

Der ehemalige Jesuitenschüler bedauerte zugleich, dass der gesamte Jesuitenorden wegen des Fehlverhaltens Einzelner an den Pranger gestellt werde. Durch den Missbrauchsskandal an den Gymnasien des Ordens werde „die sehr gute Bildungs- und Erziehungsarbeit der Jesuiten diskreditiert“. Geißler wörtlich: „Das stimmt mich traurig.“

Zugleich warnt der Sozialpolitiker Geißler vor einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Eine rein wirtschaftlichen Betrachtung des Lebens sei schädlich, sagte Geißler bei einer Festveranstaltung aus Anlass seines 80. Geburtstags in der CDU-Zentrale in Berlin. Derzeit würde ein neues Menschenbild entstehen, das den Menschen nur noch negativ als Kostenfaktor betrachte. „Der Mensch gilt umso mehr, je weniger er kostet und umso weniger, je mehr er kostet“, sagte Geißler.

Als Beispiel für die Ökonomisierung nannte Geißler die Gesundheitspolitik. Selbst das Krankenhaus mutiere zu einem reinen Wirtschaftsunternehmen. „Das Gesundheitswesen darf man aber nicht mit einem Media-Markt verwechseln“, mahnte der CDU-Politiker. Als Grund für die Entwicklung nannte er unter anderem die „Irrlehre“, dass der Markt alles von allein regle.

Die Politik müsse die ethischen Fundamente wie die Würde des Menschen und seinen Vorrang vor allen anderen Interessen wieder zur Entscheidungsgrundlage machen, forderte Geißler. Mit Blick auf die CDU mahnte er, das christliche Menschenbild und die daraus folgenden politischen Konsequenzen wieder deutlicher zur Sprache zu bringen. Empört äußerte Geißler sich auf der Veranstaltung über die derzeitige Sozialstaatsdebatte. Durch die undifferenzierte Form der Auseinandersetzung müssten die Schwächsten erleben, „dass jemand auf ihnen herumtrampelt“. Scharfe Kritik übt er auch an der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zu Hartz IV. Das sei zwar organisatorisch effizienter; durch die Gleichbehandlung aller Empfänger führe es aber zu einer staatlichen „Missachtung der Lebensleistung“ jener, die unverschuldet arbeitslos geworden seien.

Die CDU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, würdigte ihn für seinen jahrzehntelangen Kampf um soziale Gerechtigkeit. Er wirke seit fünf Jahrzehnten in der CDU und habe immer hartnäckig für „ein gerechtes Zusammenleben der Menschen“ gestritten, sagte Merkel vor mehreren hundert Gästen. Darunter waren auch frühere und heutige Mitglieder des Kabinetts. Geißler ist einer der prominentester Querdenker der CDU. Er selbst sagte bei dem Empfang: „Wo alle dasselbe denken, da wird nicht viel gedacht.“

Merkel sagte, Geißler formuliere markant, analysiere intellektuell scharf und mit großem Gespür für gesellschaftliche Veränderungen und scheue auch den Widerspruch gegen die eigenen Reihen nicht. Sein Wirken sei Ansporn zum Nacheifern. Als Generalsekretär (1977-1989) habe er Maßstäbe für die Neuorganisation der CDU gesetzt. Zu seinem Geburtstag hatte Geißler sich ein Streitgespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk gewünscht. Am Dienstagabend diskutierte er mit ihm im Konrad-Adenauer-Haus über die „Grundlagen einer humanen Gesellschaft“. Medien nennen Sloterdijk den „Guido Westerwelle unter den deutschen Intellektuellen“. Sloterdijk ergriff unter anderem Partei für die Steuerzahler. Sie sollten über die Verwendung von zehn Prozent ihrer Steuern selbst entscheiden können. Er sei sich sicher, dass sie schnell den „ausgehungerten Bildungssektor“ in Deutschland stärken würden.

Der katholische Sozialethiker Friedhelm Hengsbach würdigte Geißler als „sozialpolitischen Impulsgeber“ der CDU. Bereits 1976 habe der Politiker die „neue soziale Frage“ gestellt und auf die Armutsentwicklung in nicht gewerkschaftlich organisierten Bevölkerungsteilen hingewiesen, sagte Hengsbach am Mittwoch im rbb-Inforadio . Zudem habe der ehemalige CDU-Generalsekretär maßgeblich dazu beigetragen, das traditionelle Frauenbild der CDU zu modernisieren.

Hengsbachs Einschätzung zufolge zieht sich die religiöse Verankerung des Jesuitenschülers Geißler als roter Faden durch seine politische Arbeit. Geißler habe stets auch provoziert und liege heute mit seinen Provokationen wie etwa seiner Attac-Mitgliedschaft oder seiner Kapitalismuskritik „am linken Rand und teils außerhalb der Union“. Nachfolger vom Format Geißlers sieht der Jesuit Hengsbach derzeit nicht in der CDU, da „bei Angela Merkel ein solches Querdenken nicht ohne weiteres zugelassen wird“.