Ein zweiter Zivilist wurde in Kundus verletzt. Der Wagen der Männern war mit hoher Geschwindigkeit auf Fahrzeuge der Bundeswehr zugerast.
Kundus. Bundeswehr-Soldaten sollen in der nordafghanischen Stadt Kundus einen afghanischen Zivilisten erschossen haben. Der Polizeichef der Provinz Kundus, Mohammad Rasak Jakubi, sagte, ein weiterer Zivilist sei verletzt worden. Der Wagen mit den Männern sei in hoher Geschwindigkeit auf Bundeswehr-Fahrzeuge zugefahren und habe trotz aller Warnsignale der Soldaten nicht angehalten. Die Soldaten hätten daraufhin das Feuer eröffnet. Die Bundeswehr bestätigte den Vorfall. Bundeswehr-Sprecher Jürgen Mertins sagte, die afghanische Polizei ermittele, ob es sich um Zivilisten oder Angreifer gehandelt habe.
Unterdessen gibt es offenbar neue Erkenntnisse zu dem verheerenden Luftangriff auf zwei Tanklastwagen in Afghanistan im September. Laut einem Bericht des Spiegel soll der befehlshabende Bundeswehr- Oberst Georg Klein bewusst Falschangaben gemacht haben.
Der Oberst habe gegenüber NATO-Ermittlern eingestanden, sich durch die Erwähnung eines nicht vorhandenen Feindkontakts die Unterstützung der US-Luftwaffe gesichert zu haben. Aus dem NATO-Bericht gehe hervor, dass Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) bereits frühzeitig die relevanten Details zum Bombardement vorlagen, bei dem laut NATO bis zu 142 Menschen getötet oder verletzt wurden.
Guttenberg steht in der Kritik, weil er in einer ersten Einschätzung vom 6. November nach dem Studium des NATO-Berichts den Angriff als „militärisch angemessen“ gewertet hatte. Er korrigierte sich am 3. Dezember und erklärte, der Luftschlag sei „militärisch unangemessen“ gewesen. Guttenberg begründete dies damit, dass ihm Dokumente über den Angriff vorenthalten worden seien. Der entlassene Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan sagte allerdings, der NATO- Bericht enthalte alle wesentlichen Informationen. Die SPD kündigte eine „schonungslose“ Befragung Guttenbergs im Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Kundus-Affäre an.
Nach Spiegel-Angaben verweist der NATO-Bericht darauf, dass die Piloten vor dem Luftschlag mehrfach Bedenken geäußert und nachgefragt hatten, ob tatsächlich eine „akute Bedrohung“ vorliege. Daraufhin habe der deutsche Oberst seinen Fliegerleitoffizier antworten lassen: „Ja, diese Menschen stellen eine akute Bedrohung dar.“ Die Aufständischen versuchten, das Benzin abzuzapfen, „danach werden sie sich neu formieren, und wir haben Erkenntnisse über laufende Operationen und darüber, dass sie vermutlich Camp Kundus angreifen werden“.
In dem Untersuchungsbericht habe die NATO dagegen korrigiert, dass keine sicheren Erkenntnisse vorgelegen hätten, „die auf einen geplanten Angriff der Taliban“ gegen das deutsche Feldlager hinwiesen. Gegenüber den NATO-Ermittlern soll der Oberst zugegeben haben, die US-Luftwaffe gezielt mit falschen Angaben angefordert zu haben. Er habe den Eindruck erweckt, dass seine Soldaten Feindberührung hatten, also „troops in contact, kurz: TIC“ waren. „Sein Problem sei gewesen, dass er gewusst hätte, dass es in Wirklichkeit keine TIC-Situation gab“, zitiert der Spiegel aus der protokollierten Befragung des Oberst. Die Generalbundesanwaltschaft prüft derzeit, ob der Oberst mit seinem Befehl gegen Völkerstrafrecht verstieß.
Unterdessen geht die Diskussion um den Afghanistan-Einsatz in Deutschland weiter.
Nach der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, verlangt nun auch der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, eine neue Perspektive für das deutsche Engagement am Hindukusch. Angesichts der Lage in Afghanistan müsse eine „bittere Bilanz“ gezogen werden, schrieb er in der „Frankfurter Rundschau“. Eine einfache Lösung des Problems gebe es aber nicht, räumte er ein.
„So wie bisher kann es eigentlich nicht weitergehen“, unterstrich Erzbischof Zollitsch. Er forderte neue Entscheidungen „auch aus dem Blickwinkel einer christlichen Ethik“. Beim internationalen Engagement am Hindukusch seien „gravierende Fehler“ gemacht worden. In weiten Teilen Afghanistans herrschten kriegsähnliche Zustände. Eine stabile Demokratie sei in weiter Ferne.
Unterdessen übte der frühere UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs (Grüne), Kritik an den Äußerungen Käßmanns, die vor rund zwei Wochen unter anderem einen Plan für den Abzug deutscher Truppen gefordert hatte. Koenigs, heute Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des Bundestags, stellte im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ klar, dass er die Kritik Käßmanns am Bundeswehr-Einsatz nicht teilt. „Die Taliban werden nicht mit guten Worten und schon gar nicht mit christlichen Predigten am Morden gehindert.“ Fehler der amerikanischen Pazifisten der Vorkriegszeit dürften nicht wiederholt werden.
Die deutsche Diskussion sei, gerade wenn sie moralisch geführt werde, „zu wenig von der afghanischen Realität“ geprägt, sagte Koenigs. Er unterstrich, dass sich die Lage in Afghanistan verbessere: „Der zivile Aufbau nimmt an Fahrt auf, weil er gerade von den Afghanen selbst getragen wird.“
Käßmann hatte in Predigten und Interviews zum Jahreswechsel mehrfach den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan kritisiert und einen Plan für den Abzug der deutschen Soldaten gefordert. Der Krieg sei nach friedensethischen Maßstäben der evangelischen Kirche nicht zu rechtfertigen. Auf Kritik stieß insbesondere der Satz „Nichts ist gut in Afghanistan“ aus Käßmanns Neujahrspredigt.
Die Präses der EKD-Synode, Göring-Eckardt, verteidigte Käßmann. „Ich halte es für absolut richtig, dass sich Margot Käßmann als Christin, erst recht als Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende, zum Thema Krieg und Frieden äußert“, sagte Göring-Eckardt der „Welt am Sonntag“.
Käßmann habe zugespitzt formuliert und „den Finger in die Wunde der deutschen Debatte gelegt“, erklärte Göring-Eckardt, die auch Bundestagsvizepräsidentin ist. Die EKD-Ratsvorsitzende habe zugleich keinen Zweifel daran gelassen, dass der zivile Aufbau noch militärischen Schutz benötige, unterstrich die Grünen-Politikerin.
Laut Göring-Eckardt war Käßmanns Vorstoß zu dem Thema kein Alleingang. Vielmehr habe man im EKD-Rat, dem Göring-Eckardt angehört und Käßmann vorsitzt, zuvor besprochen, das Thema Afghanistan aufzugreifen. „Das haben wir uns im November bei der ersten Sitzung des neuen EKD-Rates vorgenommen.“
Die Regierung strebt unterdessen einen Konsens mit der Opposition in der Afghanistan-Frage an. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) führte nach Medienberichten bereits ein entsprechendes Gespräch mit SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeie. Laut „Süddeutscher Zeitung“ wurde dabei vereinbart, den Einsatz der Bundeswehr aus parteipolitischem Streit herauszuhalten und ein für alle Seiten zustimmungsfähiges Mandat zu erarbeiten. Nach Informationen der „Rheinischen Post“ stellte Steinmeier Zustimmung der SPD in Aussicht, falls die Bundesregierung ein Gesamtkonzept für den zivilen Aufbau vorlege und auf eine Erhöhung der Kampftruppen verzichte. Ein SPD-Fraktionssprecher wollte das Treffen nicht konkret bestätigen, sagte aber, solche Gespräche zwischen Regierung und Opposition seien „nicht unüblich“.
Bei Vertretern von Regierung und Opposition stießen die Konsensbemühungen der Kanzlerin auf Zustimmung. Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) sagte „Bild am Sonntag„: Ein möglichst breiter Konsens ist wichtig für den Rückhalt unserer Soldaten.“ Der Verteidigungsexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, lobte in der „Welt am Sonntag„: „Es ist gut, wenn Kanzlerin Angela Merkel das Gespräch mit Oppositionsführer Frank-Walter Steinmeier sucht.“ Bevor die Regierung mehr Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan schicke, müsse allerdings geklärt werden, was diese dort tun sollen.
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel forderte, mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan bereits im kommenden Jahr zu beginnen. 2011 fange auch Amerika an, seine Truppen zu reduzieren, sagte Gabriel der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Bis dahin müsse Deutschland aber „bedeutend mehr afghanische Polizisten und Soldaten ausbilden und das sehr viel schneller als bisher“, sagte Gabriel weiter. Die Forderung nach mehr Kampftruppen in Afghanistan lehnte er als falsch ab.
Unterdessen bemängelte die Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) die deutsche Ausbildungsstrategie in Afghanistan. „Wir haben Angst davor, dass viele der afghanischen Polizeianwärter nach ihrer Ausbildung gar nicht erst ihren Dienst antreten, sondern direkt zu den Taliban überlaufen“, sagte DPolG-Chef Rainer Wendt „Bild.de“. Bisher haben demnach die deutschen Beamten – einhundert sind bereits in Afghanistan stationiert – rund 25.000 afghanische Polizeianwärter ausgebildet. Nach Angaben des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Ruprecht Polenz (CDU), soll die Zahl der deutschen Polizeiausbilder auf 200 verdoppelt werden.
Am 28. Januar wird in London eine Afghanistan-Konferenz organisiert, auf der über eine neue Strategie beraten werden soll, um den seit acht Jahren dauernden Einsatz doch noch zu einem Erfolg zu machen. Einen Tag zuvor will Merkel eine Regierungserklärung dazu im Bundestag abgeben. Die USA haben bereits eine Truppenerhöhung um 30.000 Soldaten beschlossen, die Europäer machen eine solche Entscheidung von einem neuen Konzept für das Land am Hindukusch abhängig.