Hamburg. Chefdirigent der Symphoniker Hamburg spricht über Programmplanung in Corona-Zeiten, seine Karriere – und warum er 3500 LPs verschenkt.
„Ich habe Spaß an allem, wenn es gut ist.“ Als Chefdirigent der Symphoniker Hamburg ist Sylvain Cambreling in einer interessanten Führungsposition: Sein Orchester ist nicht das größte der Stadt, hat aber mit der Laeiszhalle eine großartige Spielstätte fast für sich, weil sich das meiste in der Elbphilharmonie abspielt. Cambreling ist Franzose, war Posaunist und besitzt wirklich sehr viele Bücher. Und als er jung war, war seine gesamte Familie den Nachbarn in Amiens verhasst.
Hamburger Abendblatt: Das Einfache zur Begrüßung: Sie haben eine Gemeinsamkeit mit Jules Vernes und Emanuel Macron. Wissen Sie, was?
Sylvain Cambreling: Ah ja, natürlich! Amiens. Macron ist nach mir dort geboren worden…
… und Jules Vernes ist dort gestorben. Dann jetzt das Schwere: In einem Interview haben Sie 1998 gesagt: „Ich versuche nur Stücke zu dirigieren, die ich liebe.“ Wie gut gelang Ihnen das seitdem?
Sylvain Cambreling: Heute würde ich etwas anders antworten, weil ich inzwischen viel mehr liebe. Tschaikowsky beispielsweise. Dafür hatte ich kein Gefühl. Und ich habe sehr viel Neue Musik dirigiert. Ich bin inzwischen viel flexibler in meinem Geschmack.
Haben Sie in den letzten Monaten gelernt, was ihr Beruf sein kann – und was nicht? Ein Geiger könnte sich im Extremfall allein auf die Straße stellen und spielen. Bei Ihnen als Dirigent würde da nicht so viel passieren. Was hat diese Zeit mit Ihrem Berufsverständnis gemacht?
Sylvain Cambreling: Ein Dirigent ohne Orchester ist ein Nichts. Natürlich kann man immer Stücke am Tisch studieren. Ich liebe Analyse, ich nehme mir viel Zeit, um Noten zu lesen. Aber nach einer gewissen Zeit werde ich fast krank... Man denkt immer: Was bin ich, was sind wir als Künstler, wenn wir nichts schöpfen? Geübt habe ich aber manchmal – reine Schlagtechnik, ohne Musik.
Sie legen sich dann eine Platte auf und stellen sich vor einen Spiegel?
Sylvain Cambreling: Ohne Platte, nur die Partitur lesend. Ich arbeite auch nicht am Klavier. Ich höre, was ich lese.
Dieses Vorstellen von Klang… In einem Dirigentenhirn muss etwas ganz anderes passieren als bei Musikern. Und dann gehen Sie in eine Probe, mit Ihrer Vorstellung – und alles ist aber ganz anders.
Sylvain Cambreling: Das ist schwierig, aber es kommt mit Erfahrung, sehr langsam. Vielleicht klingt das etwas pedantisch oder prätentiös, aber ich glaube wirklich, dass ich eine relativ deutliche Ahnung habe, wie es klingen sollte. Das hat mit Stil zu tun, aber nicht nur. Klänge sind ein Teil der Arbeit. Aber: die Zeit, der Lauf der Zeit, wie man von einem Tempo zum anderen geht… Als junger Dirigent braucht man sehr viel Zeit, um das zu lernen.
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Ihr Lebenslauf ist nicht ganz klassisch: Sie haben unter anderem mit Posaune begonnen, waren fünf Jahre in Lyon im Orchester und haben parallel in Paris Dirigieren studiert. Erstaunlich. Wie kam das?
Sylvain Cambreling: Mein Theoriestudium in Paris hatte ich sehr früh beendet, mit 15 Jahren. Danach habe ich viel gespielt, als Posaunist, Kontrabassist und auch als Schlagzeuger. Klassisch, Jazz, Varieté, ich habe ein bisschen im Moulin Rouge gespielt… Man lernt etwas und man muss als Student ja auch etwas Geld verdienen. Und ich habe mit dem Komponieren begonnen und Theater gespielt. Ich hätte also in viele verschiedene Richtungen gehen können. Bis der Moment kam, als ich am Pariser Konservatorium einen Preis als Posaunist gewann. Dann folgte das Vorspiel für Lyon. Und in den ersten Jahren dort habe ich gedacht: Dirigieren ist vielleicht doch interessant. Ich hatte immer die Partituren auf meinen Knien liegen….
… Streber!, haben die Kollegen bestimmt gesagt…
Sylvain Cambreling: … Ja… und in meinem zweiten Jahr als Posaunist habe ich das Dirigierstudium begonnen und nach einem Jahr das Diplom gehabt. Bei einem Wettbewerb in Besancon habe ich den zweiten Preis erhalten und danach hat man mich manchmal gebeten, kleine Konzerte zu leiten. Nach Konzerten mit Strawinsky – unter anderem der „Sacre“ - und Schumanns „Faust-Szenen“ hat man mir einen Assistentenposten angeboten und ich habe das mit der Posaune gelassen.
Ich hatte vermutet, dass Sie sich auch mal im Orchester-Alltag gelangweilt haben, weil Posaune ja nicht ständig besetzt ist. Und dann hab es irgendwann ein Stück X, bei dem Sie dachten, also, was der da vorn kann, kann ich ja nun auch. So war es aber nicht?
Sylvain Cambreling: Ein bisschen schon. Auch wenn ich nichts zu spielen hatte, ging ich immer mit Partitur in die Proben, um Dirigenten zu beobachten. Ich wollte immer mehr wissen. Und mehr und mehr kam der Gedanke: Ja. Das könnte ich auch.
Wittern Blechbläser im Orchester, dass Sie einmal einer von ihnen waren? Haben Sie einen besseren Draht zu dieser Gruppe und kümmern sich als erstes darum, dass die glücklich sind?
Sylvain Cambreling: Heute nicht mehr. Es gab eine Zeit, da wollte ich mehr kontrollieren, was die Blechbläser machen. Aber ich habe viel, viel gelernt über Streicher, ich war ja auch Kontrabassist. Jetzt empfinde ich keine besondere Liebe für eine bestimmte Instrumentenfamilie, jede ist für mich wichtig. Ich kann mich aber auch mit einem Harfenisten unterhalten, weil meine Schwester Harfenistin ist, einer meiner Brüder war Pauker, ein anderer Fagottist…
Sie hatten also fast ein Kammerorchester als Familie? Das war mir neu. Wie viele Instrumente kommen da zusammen?
Sylvain Cambreling: Ich bin das dritte von neun Kindern, sechs haben eine professionelle Musik-Karriere gemacht und es gibt schon eine zweite Generation: Ein Neffe ist Hornist in Lübeck. Eine Flötistin in Karlsruhe. Die anderen sind in Frankreich geblieben.
Und die Nachbarn damals haben die Cambrelings gehasst, weil ständig irgendwer übte.
Sylvain Cambreling: Das war ganz genau so!
Themenwechsel: Oper. Die spielte in Ihrem Leben lange eine wichtige Rolle, Sie haben viel Oper in Salzburg dirigiert, waren unter anderem Generalmusikdirektor in Frankfurt und Stuttgart. Szymanowskis „König Roger“ 2018 in Frankfurt soll Ihre 118. Oper gewesen sein. Jetzt sind Sie Chefdirigent bei einem Konzertorchester, bei dem Oper zweite Geige spielt. Fehlt Ihnen das oder haben Sie mit diesem Thema abgeschlossen?
Sylvain Cambreling: Oper liebe ich, aber ich habe mich am Ende meiner Zeit in Stuttgart entschieden, nicht mehr GMD an einem Opernhaus zu sein. Ich habe sehr viel Zeit bei Proben verbracht. Das war meine Wahl. Aber meine Liebe zu Oper, zu Sängern, zu der Literatur, zu Text, Regie und Theater – das ist geblieben. Alle zwei Jahre eine neue Produktion? Das gerne. Was mir manchmal etwas fehlt: Über eine lange Zeit habe ich fast jährlich mindestens eine Mozart-Oper dirigiert. Aber ich wollte mehr symphonisches Repertoire.
Und jetzt also Hamburg: Sie sind, wertfrei ausgedrückt, Chef beim kleinsten der drei großen Orchester. Wie angenehm ist es, in dieser Underdog-Position zu sein?
Sylvain Cambreling: Ich kannte Jeffrey Tate, wir waren gute Freunde. Nach dem Schock seines Todes wollte ich etwas machen und vorgeschlagen, sein letztes geplantes Konzert zu übernehmen. Als das Angebot kam, habe ich nicht sehr lang nachgedacht. Drittes Orchester der Stadt, dieser Fakt war nicht sehr oft in meinem Kopf. Es hat mich interessiert, ein Symphonie- statt ein Opernorchester als Chef zu übernehmen. Nicht zu groß, das hat mir gefallen. Wenn es sehr groß ist, spielen die Musiker nicht oft zusammen, sie sind immer in anderen Besetzungen. Jetzt läuft meine dritte Spielzeit und ich bin sehr glücklich. Wir haben einen besonderen Kontakt, es gibt viel Vertrauen. Das Orchester hat extrem großes Potenzial. Man muss viel arbeiten, ich bin in Proben ein Schwerarbeiter. Und die Musiker wollen das!
Und dann kommt ein Virus und wirft alle Ideen aus dem Fenster. Alle fragen sich jetzt: Wie und wann bekommt man das Publikum zurück in die Säle? Mit welchen Formaten, welchen neuen Programm-Ideen? Was haben Sie vor? Wo wollen Sie mittelfristig hin, um zu sagen: Was wir machen, machen nur wir?
Sylvain Cambreling: Die gesamte Spielzeit hatten wir geplant, unter anderem kleine Vor-Programme mit Musik von Scelsi, letzte Saison war es Grisey gewesen. Wie die Programmierung für diese Spielzeit wird, ab wann werden wir mehr als 40 auf der Bühne sein, ab wann können wir mit Chor arbeiten – das weiß niemand. Wir machen nicht, was wir wollen, wir machen, was wir können. Und ich sorge mich um die Musiker. Wenn wir mit 27 spielen, spielen die anderen nicht. Das ist nicht gesund für ein Orchester. Ein Programm für 15 bis 25 Leute, das ist relativ leicht, es gibt wunderbares Repertoire. Aber was machen die anderen?! Meine armen Freunde, die Posaunen! Ich würde gern ein Programm nur für Blechbläser entwerfen… es ist komplex. Ich versuche, Fantasie zu haben.
Haben Sie als Dirigent das Gefühl, der Job wird erst richtig schön, wenn man eine große, dick besetzte Bruckner-Sinfonie oder einen Mahler leitet? Oder können Sie ein Streichorchesterchen genauso genießen?
Sylvain Cambreling: Ich habe Spaß an allem, wenn es gut ist. Und ein heutiger Dirigent muss alles können: Kammermusik, Barock, auch avancierte Musik und das große Repertoire.
Mit einem Skoda loszufahren ist etwas anderes als Gas geben in einem Porsche…
Sylvain Cambreling: Die Herausforderung ist eine andere. Auch mit den größten Besetzungen muss man trotzdem Kammermusik machen. Kammermusik mit 100 Menschen ist möglich und es ist schön. Und schwer.
Sie sind jetzt um die 72 Jahre alt. Haben Sie das Gefühl, alles erreicht zu haben, was Sie erreichen wollten und jetzt geht es - in großen Anführungszeichen - ums Vertiefen? Sind noch Wünsche offen oder ist im Großen und Ganzen alles in Ordnung?
Sylvain Cambreling: Es ist überhaupt nicht in Ordnung. Ich bin absolut sicher, dass ich noch viel, viel, viel zu lernen habe.
Dafür trennen Sie sich dann auch mal von Partituren voller Einträge, mit denen Sie seit Jahren gearbeitet haben, um mit einer frischen Ausgabe wirklich wieder bei Null anzufangen?
Sylvain Cambreling: Oft, das mache ich gern.
Ihr Vertrag bei den Symphonikern läuft bis…?
Sylvain Cambreling: … Der erste Vertrag hat drei Jahre plus zwei.
Sie blieben also, wenn sich nichts ändert, momentan bis 2022.
Sylvain Cambreling: Ja. Das wäre mein Wunsch.
Wollen Sie danach verlängern?
Sylvain Cambreling: Zurzeit fühle ich mich sehr wohl. Die Situation ist wegen der Pandemie gerade extrem schwer. Aber: Ich bin treu. Ich war zehn Jahre in Brüssel geblieben, fünf Jahre in Frankfurt, zwölf beim SWR, zehn Jahre beim Klangforum Wien. Wenn es geht, möchte ich gern lang in Hamburg sein - immer mit dem Ziel, etwas mehr Mittel für die Musiker zu haben und so das Fundament zu verbreitern.
Vom dritten auf den zweieinhalbten Platz.
Sylvain Cambreling: Platz interessiert nicht. Wenn man ein besonderes Profil dieses Orchesters erkennen wird, werde ich schon sehr zufrieden sein.
Haben Sie die Corona-Monate genutzt, um zuhause in Brüssel Ihre Bibliothek durchzusortieren? Ich habe einmal etwas von 280 Regalmetern gelesen. Finden Sie noch alles oder kaufen Sie schon doppelt?
Sylvain Cambreling: Das ist das Drama. Ich habe so viele, viele Bücher und kaufe trotzdem weiter. Es stimmt… Ich habe eine Wohnung über drei Etagen, die hatte ich nicht allein, sondern mit meinem Freund Gérard Mortier, der Plan war: bis zu unserem Lebensende. Es kam anders. Jetzt ist sie viel zu groß für mich.
Hat aber Platz für Bücher.
Sylvain Cambreling: Trotzdem möchte ich das demnächst ändern. Ich möchte gern ein bisschen weggeben. Vielleicht statt drei Etagen nur eine, das wäre genug. Ich habe auch etwa 3500 Vinyl-LPs, jetzt habe ich jemanden gefunden, dem ich die schenke. Denn ich möchte da, wo die sind, im ersten Stock, die Kunstbücher platzieren. Wie viele Bücher ich habe, weiß ich nicht.
Zum Finale, ich war ja nie da: Gibt es in Brüssel wirklich die besten Pommes frites der Welt?
Sylvain Cambreling: (lacht) Ich bin kein Fan von Pommes frites.
Cambreling-Konzerte mit den Symphonikern: 25.10., 18.30 / 21 Uhr, Laeiszhalle, Gr. Saal: Beethoven 2. Klavierkonzert, Schubert 5. Sinfonie. Nicholas Angelich (Klavier). 22.11., 11 Uhr, Laeiszhalle, Gr. Saal: Beethoven „Egmont“-Bühnenmusik, Mahler: Drei Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“ (Kammerorchesterbearbeitung), Rihm „Stilles Stück“. Marie Seidler (Mezzosopran), Christoph Pohl (Bariton) u.a.