Hamburg. Dirigent sollte mit Ensemble Le Concert des Nations in der Laeiszhalle auftreten. Im Podcast spricht er über Beethovens Einmaligkeit.
Dirigent Jordi Savall wollte eigentlich an diesem Wochenende (17. und 18. Oktober) mit seinem unkonventionellen Ensemble Le Concert des Nations in der Laeiszhalle auftreten. Daraus wird nun nichts. Grund: Einige Musiker von Jordi Savalls Orchester wurden im Zuge von Routine-Testungen positiv auf den Erreger für Covid-19 getestet. Jordi Savall sei untröstlich, heißt es. Savall beabsichtige, den Zyklus in den kommenden Spielzeiten wieder aufzunehmen und auch nach Hamburg zu bringen.
Mit dem Abendblatt sprach Jordi Savall vor der Absage Beethovens Einmaligkeit: Von heute aus betrachtet, sind Beethovens Sinfonien Klassiker. Ändert man aber diese Perspektive, sieht alles schon ganz anders aus, dann sind sie Avantgarde, modern, radikal. Der spanische Dirigent Jordi Savall hat seine Interpretation dieser neun Meisterwerke mit den Augen und den Ohren des Barock-Experten gründlich unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse sind sensationell anders.
Hamburger Abendblatt: Beim ersten Hineinhören in Ihre Beethoven-Aufnahmen, Einstieg war die „Eroica“, habe ich einen Schreck bekommen – aber einen ganz angenehmen Schreck. Diese Musik, die ja so bekannt ist, hatte ich lange nicht so aufregend gehört. Passiert Ihnen öfter, dass Ihnen jemand sagt: Also, so hätte ich das nicht erwartet?
Jordi Savall: Ja. Wir haben versucht, aus der Richtung der Geschichte zu arbeiten, und das ist auch für uns ein Schreck geworden. Wenn man von Bach, Rameau, Haydn zu Beethoven kommt, war das auch für uns eine enorme Überraschung. Das war ein Ziel dieses Experiments. Mit Les Concerts des Nations arbeiten wir seit mehr als 30 Jahren. Und hier hatten wir die Möglichkeit, in die Tiefe von allem zu gehen und alles in Frage zu stellen: Artikulation, Tempi, Charakter… In meinem Leben habe ich viele Beethoven-Einspielungen gehört, von Karajan bis Kleiber, es sind viele sehr schön. Aber in keiner habe ich diese Mischung von historischem Respekt und Freiheit und Fantasie gefunden.
Ihre Aufnahme lässt ahnen, wie sich das Beethovens Publikum gefühlt haben mag, als es von dieser Musik erwischt wurde. Wir jetzt können diese Musik ja nicht mehr als so neu, aufregend, ruppig und provokant hören. Sie wollten sich Beethoven vom Barock aus nähern und ihn aus dieser Richtung zu denken.
Jordi Savall: Wenn Sie Beethoven interpretieren und Sie kommen dabei von Brahms, Strawinsky oder Mahler, versuchen Sie in die Beethoven-Orchester auch diese klanglichen Elemente einzubringen. Aber Beethovens Instrumente kommen noch aus früheren Epochen: Holzbläser sind Holz, Naturhörner, Naturtrompeten, Streicher mit Darmsaiten… Ein kritischer Punkt ist die Balance zwischen Streichern und Bläsern. Beethoven sagte, er möchte maximal 60 Instrumente haben. Da ist die Balance perfekt. Es gibt wunderbar Platz für alle.
Brauchte die Welt denn noch einen weiteren Beethoven-Zyklus?
Jordi Savall: Wenn er nicht etwas Neues brächte, dann nicht. Aber wenn man die Sinfonien aus einer anderen Perspektive entdecken kann, mit einem anderen Klangkonzept, dann entdecken Sie andere Dinge, auch den Kammermusik-Aspekt. Jede Linie einer zweiten Geige oder einer Bratsche ist so wichtig. Wichtig waren auch die Tempi. Aus der Alten Musik bin ich gewohnt, mit langen Melodielinien zu arbeiten. Auch das habe ich hier versucht; sehr oft wird diese Musik zu vertikal gedacht.
Sie sind seit Jahrzehnten als Ausgräber und Archiv-Durchforscher bekannt, beginnend im Mittelalter-Raritäten bis ins späte Barock. Und jetzt aber dieses Paket mit extrem bekannter Musik. Ist es besonders schwer, sich auf Null zurückzustellen und sich vorzunehmen: Wollen wir doch mal sehen, wie das geht? Es ist ja keine Entdeckung, die seit 400 Jahren niemand gespielt hat.
Jordi Savall: Ja, eben. Beethovens Sinfonien sind in schrecklichen Interpretationen bekannt – völlig unkorrekte Tempi, alles sehr dick, sehr groß. Wo ist da Beethoven? Ich hatte das Glück, dass es schöne Faksimile-Ausgaben gibt. Ich bin es gewohnt, dass man durch ein Manuskript verstehen kann, was man mit dieser Musik machen kann. Ich habe eine gute Ausgabe genommen und dort alles notiert, was ich noch klarer machen könnte.
Und weil dieses Repertoire so überbekannt ist, sagen normale Orchester: Das machen wir in zwei Proben, bloß keine Aufregung, das Stück kennen wir schon. Sie aber arbeiten mit „Le Concert des Nations“, einem Ensemble, das Sie sich selbst zusammengestellt haben. Lauter Gleichgesinnte. Wie lang arbeiten Sie schon an „Ihrem“ Beethoven?
Jordi Savall: Die Qualität und Sinnlichkeit dieses Projekts war: Zeit zu haben. Wir haben die neun Sinfonien in vier Programme geteilt. Für jedes Programm haben wir sechs Tage gearbeitet, sechs Stunden täglich, zusammen und individuell. Dann eine Masterclass über Klang, Staccato, die Bogen-Spannung…
… Ein normales Orchester würde Sie dafür für verrückt erklären…
Jordi Savall: Absolut. Und dann, nach sechs Tagen sind die Musiker nach Hause gegangen. Und danach noch einmal das Gleiche, um noch mehr in die Tiefe zu gehen, dann Proben und die Aufnahmen.
Geben Sie Ihrem Orchester auch noch Fachlektüre-Listen?
Jordi Savall: Nein. Die Musiker, die ich habe, sind Leute, die neugierig sind. Ich bin kein autoritärer Dirigent, wir machen diese Arbeit zusammen. Das ist ein ganz anderes System.
Und für konventionelle Orchester sind Sie deswegen verdorben.
Jordi Savall: Das große Problem dort: Ich komme und mir wird gesagt: Wir brauchen das nicht zu proben, das Stück haben wir kürzlich gespielt. Dann sage ich: Warum haben Sie mich geholt, wenn Sie nur machen wollen, was Sie immer schon gemacht haben? Eine gute Interpretation entsteht, wenn alle technischen Probleme gelöst sind und man die Musik durch die Instrumente leben lässt.
Ihr Beethoven-Zyklus hat den Untertitel „Revolution“. Darüber haben andere Regale vollgeschrieben, aber dennoch: Was ist für Sie das Revolutionäre, sensationell neue Andere an Beethovens Musik?
Jordi Savall: Haydn hat über 110 Sinfonien, Mozart 41. Beethoven hat nur neun – und jede ist eine Revolution, ein Neustart. Und Beethoven schreibt nicht für eine Elite, er schreibt für die Menschen, nicht für einen geschlossenen Kreis wie bei Haydn oder Mozart. Er versucht in seiner Musik eine sehr direkte Sprache, und wenn man wie ich und meine Musiker vom Barock kommt, ist jeder Takt, jede Phrase überraschend.
Um all das, was Sie hart und kleinteilig erarbeitet haben, im Konzert ans Publikum zu vermitteln, müssten Sie eigentlich auch noch Vorträge halten. Zu glauben, all das vermittelt sich von selbst, ist vielleicht zu optimistisch?
Jordi Savall: Nein, immer wieder sind Menschen nach Konzerten zu mir gekommen und haben berichtet, sie hätten Details gehört, die sie nie bemerkt haben.
Wollen Sie sich weiter in der Musikgeschichte vorarbeiten? Schubert, Schumann, es ist ja noch einiges da.
Jordi Savall: Wir planen im nächsten Jahr Schubert-Sinfonien und Haydns „Schöpfung“, im Jahr danach unter anderem Beethovens „Missa Solemnis“ und Mendelssohns „Sommernachtstraum“.
Wieso machen sich nicht mehr Orchester die Mühe, die Sie sich machen?
Jordi Savall: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ein normales Orchester ist finanziert durch eine Stadt oder eine Regierung. Wir sind komplett privat finanziert. Für die vier Beethoven-Akademien mit 60 Leuten brauchte ich 650.000 Euro, Reisen, Hotels, Honorare… Und jetzt, durch Corona, sind wir in einer sehr schwierigen Situation. Sechs Monate ohne Konzerte! Jetzt holen wir im Oktober die Konzerte aus dem Sommer nach, die aus dem Oktober kommen im nächsten Jahr.
Was ist Beethoven für Sie, was für diese Zeit? Nur ein weiterer toller Komponist?
Jordi Savall: Als ich jung war, waren seine Sinfonien für mich die schönste Musik. Man muss nicht viel über seine Musik wissen, sie geht direkt zum Herzen. Voll Poesie und Kraft, alle Emotionen, die ein Mensch haben kann. Und er hat sein schwieriges Leben transformiert, in Schönheit. Hören Sie die Vierte, die wird oft als sehr leicht interpretiert, aber der zweite Satz: unglaublich!
Wir beide sind uns ja einig, dass Beethoven ein relativ guter Komponist war. Aber gibt es dennoch ein Stück, gern genannt wird das ziemlich doofe, aber erfolgreiche „Wellingtons Sieg“, von dem Sie vielleicht denken: Was hat er da bloß gemacht?!
Jordi Savall: Ich finde dieses Stück lustig. Was hat er bloß gemeint und gewollt, das frage ich mich beim letzten Satz der 8. Sinfonie.
Es gibt ein schönes Zitat von Ihnen: Wenn ein Künstler nicht fähig ist, die Welt zu verändern, dann ist er kein Künstler. Ein toller Satz. Aber mit diesem Anspruch läuft man momentan sehr frustriert durch die Welt?
Jordi Savall: „Welt“, das ist zu groß, aber wenn Sie das Wort durch „Menschen“ ersetzen, ist es ganz anders. Ich weiß, dass Musik Menschen verbessern und helfen kann. Das hat ich viele Male erfahren. Ohne Musik wäre das Leben unmöglich. Sehr arm. Und jedesmal, wenn wir ein Konzert mit Beethovens Sinfonien machen, sind wir alle unglaublich betroffen. Man ist voller Optimismus und Energie. Man glaubt, man kann eine bessere Welt erschaffen. Und das geht sehr tief. Nicht jede Musik hat diese Kraft.
Aktuelle CDs: Beethoven Sinfonien 1-5 (Révolution). Le Concert des Nations, Jordi Savall (Alia Vox, 3 CDs, ca. 36 Euro).