Hamburg. Ein Gespräch mit der berühmtesten Geigerin der Welt über Corona, ihre Karriere und die Frage, welches Popcorn im Kino es sein muss.
Sie ist schlagfertig, amüsant, großer „Star Wars“-Fan und im Hauptberuf seit Jahrzehnten eine Jahrhundertgeigerin. Mit Anne-Sophie Mutter über Musik und anderes zu reden, ist ein großes Vergnügen, weil sie sofort und smart auf den Punkt kommt. Auch für sie waren die letzten Monate, mit und wegen Corona, eine dramatische Zäsur. Das Gespräch fand statt, bevor die Corona-Gegenmaßnahmen für November beschlossen wurden.
Für Sie die einfache Frage zum Einstieg: Welche Farbe hätten Sie gern für Ihr Laserschwert? Lila hat sich Samuel L. Jackson gesichert.
Anne-Sophie Mutter: Hellgrün.
Und wie ist es eigentlich so, die berühmteste Geigerin der Welt zu sein?
Das ist eine Frage der Perspektive. Ich bin nicht der Meinung, dass ich das bin. Außerdem ist Berühmtsein kein Lebensziel, von einem Künstler schon gleich gar nicht. Ich bin sehr glücklich, dass ich einige Komponisten inspirieren konnte, für mich zu schreiben und sie immer noch inspiriere, wie beispielsweise John Williams, der mir gerade sein zweites Violinkonzert gesandt hat, ein Riesenwerk, viersätzig. Das ist das Zentrum meines Lebens. Wenn sich Menschen dafür interessieren, ist das natürlich wunderbar, weil Musik ja nur mit einem Gegenüber und in einer Gruppe Sinn macht. Wenn ich meinen ersten Wettbewerb dazurechne, da war ich knapp sechs, dann hab‘ ich vor 51 Jahren das erste Mal vor Publikum gespielt.
Ist das nicht auch erschreckend, wenn Sie auf diese Zahl sehen?
Mir geht’s immer noch sehr gut. Besser als früh sterben.
Neulich waren Sie zu Gast in Berlin, bei Daniel Barenboim und der Staatskapelle, als Body Double für Lang Lang, der in China ist. Das ist Ihnen bestimmt noch nicht oft passiert, Ersatz für jemand zu sein?
Ich bin noch nie für einen Kollegen eingesprungen. Und war total glücklich, dass ich das in meinen – durch Corona etwas löchrig gewordenen – Kalender einbauen konnte. Es war eine große Freude einzuspringen, zumal Open-Air-Konzert in Deutschland sehr rar sind, was ich sehr bedauere. Gerade jetzt ist das eine optimale Lösung: Frische Luft, Abstand, wunderbare Musik, Sternenhimmel. Besser geht’s nicht.
War da eine Drittgeige am Start oder nehmen Sie eines Ihrer richtig guten Instrumente mit hinaus in den kalten Wind?
Es war kühl, da haben Sie recht. Ich habe ziemlich gefroren und hatte auch eine Ski-Unterhose unter meinem Kleid. Aber die 16 Grad, die kann die Geige schon noch ab. Vor einigen Jahren war ich in Colorado Springs, da hat’s geschneit im Sommer. Da hab‘ ich dann protestiert, und gottseidank mit mir auch die Wiener und die Berliner Philharmoniker. Man hat dann ein Zelt aufgebaut und ein Klima geschaffen, dass für die Instrumente zuträglicher war.
Werden wir ernster: Was glauben, ahnen, befürchten Sie: Was passiert mit der Kulturnation Deutschland? Wo landen wir nach Monaten mit Corona im nächsten Jahr?
Die Vielfalt geht verloren, der Jazz leidet, die Kammermusik leidet, die junge Generation verliert ihre Unterstützer, weil vieles, was jetzt für den Nachwuchs ausfällt, gar nicht wieder neu angesetzt wird. Es ist psychisch extrem belastend zu realisieren, dass sich seit dem 18. Jahrhundert eigentlich wenig geändert hat, was die Randerscheinung Kunst und Kultur betrifft. Das waren wir immer und sind es leider immer noch. Wir sind, wie Beethoven früher, ganz unten an der Tafel. Viele von uns speisen gar nicht mehr. Wir wissen, dass die Corona-Hilfen sehr verworren angelegt sind. Dass es für viele Künstler gar nicht möglich ist, sich überhaupt in den Anträgen zurechtzufinden. Ich hätte mir gewünscht, dass man zwischen dem On und Off eine Lösung findet, so wie Salzburg sie gefunden hat. Wir wissen spätestens seit Salzburg, dass ins Konzert gehen einer der sichersten Orte ist. Darunter leidet die Kunst, vieles wird wegbrechen. Das ist der Politik bekannt, es gibt viele andere Problembereiche und die Politik ist mit der Situation hoffnungslos überfordert.
Meine Befürchtung ist, dass mehr Menschen, als wir beide es glauben, sagen: Ach, geht doch auch so, ich hab‘ Spotify und Netflix. Passt.
Es gibt natürlich Menschen, die das Leben gern vom Sofa aus genießen. Aber es gibt sie noch, diejenigen, die direkt dabei sein wollen und darin ihr Lebensglück sehen. Daran glaube ich nach wie vor.
Ich war bei Ihrem Beethoven-Kammermusik-Abend in der Elbphilharmonie. In Runde zwei haben Sie mehr Zugaben gespielt, als man es wohl gedurft hätte. Sie haben sich extrem wohl gefühlt auf dieser Bühne.
Im ersten Konzert hatten wir leider nicht das Glück, Zugaben spielen zu dürfen. Da hatten wir die Hygiene-Truppe im Nacken, die uns schlichtweg – verständlicherweise, aber auch etwas skurril – die Zugabe verbot, die nur eine Minute dauert. Aber das ging nicht mehr, weil man mit dem Lappen feudeln musste. Ich spiele ja gern Zugaben, aber nur, wenn mir nicht jemand mit dem Feudel im Nacken sitzt (lacht).
Wie hätte Ihr Kalender ausgesehen? Bis wann wären Sie ohne Corona ausgebucht gewesen, wie weit sind Sie es jetzt mit?
Man plant immer drei bis fünf Jahre im Voraus, daran hat sich nichts geändert. Nun sind Konzert in Hongkong ausgefallen, das Beethoven-Jahr habe ich bereits in der Saison 2019 begonnen, war damit in China und kurz vor Corona in Japan. Es wird weiter für 23/24 geplant. Ich habe mein Sabbatical vorverlegt und werde die erste Hälfte von 2021 hoffentlich nutzen können, um die Konzerte, die wir verschieben musste, zu spielen.
Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja sagte mir, ohne Bühne sei sie jemand, den sie noch nicht gekannt habe. Wie ging es Ihnen in den letzten Monaten? War Ihr Glas immer halb voll oder gab es auch ganz andere Phasen?
In den ersten Wochen war ich mit Blick auf Italien und die unfassbar vielen Todesfälle gelähmt. Das hat mich wahnsinnig belastet. Eines der ersten Konzerte, das ich dort spielen werde, soll ein Benefizkonzert sein, als Geste, weil Musik für mich der Zement der Gesellschaft sein sollte, sein kann und oft ist.
In München sind Sie seit Jahren in der elenden Konzerthaus-Bau-Debatte aktiv und der Stadt gern die Leviten gelesen mit Ansagen wie „das ist hier wie im Mittelalter“. Gibt es dafür Gegenwind? Ruft das Münchner Rathaus dann mal an und beschwert sich? Oder stört Sie das gar nicht?
Der direkte Dialog mit den Entscheidern ist immer am zielführendsten. Deswegen habe ich Kontakt mit Frau Grütters und unserem Ministerpräsidenten, um auf die Nöte der Solo-Selbstständigen hinzuweisen, und auch auf die Nöte der privaten Veranstalter. Ich habe versucht, Verständnis und einen Informationsfluss für die gravierende Lage herzustellen. Genauso ist es mit dem Konzertsaal. Wenn ich gefragt werde, bin ich nicht der Typ Mensch der sagt: alles großartig, ich warte gern noch zehn Jahre. Dieser weitere Saal muss her. Durch Corona ist diese Frage natürlich wieder in den Hintergrund gedrängt worden.
Ich stelle mich mal ganz dumm und mir vor, ich hätte noch nie eine Geige gehört. Wie würden Sie mir diesen Klang beschreiben?
Ich glaube, es war Nietzsche, der gesagt hat, dass Sprache endet, wo Musik beginnt. Den Klang einer Geige kann man nicht beschreiben, den muss man hören. Und da ich zufälligerweise Geige spiele, würde ich Ihnen etwas vorspielen. Gottseidank ist die Geige gerade nicht hier im Büro… (lacht)
Müsste man hin und wieder nicht auch hören, wie schwer ein Stück ist? Bei Ihnen hört man eher selten, dass Sie solche Probleme haben. Man hört nicht die Forderung und auch nicht die Überforderung. Bei Beethoven war so etwas noch mit eingebaut.
Die Virtuosität der Interpreten hat sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt. Es hat umgekehrt aber auch Komponisten wie Richard Strauss gegeben, der eiskalt auf die Kommentare von Hornisten geantwort hat: Tja, ich schreibe, Sie spielen. Und wenn Sofia Gubaidulina meine Haare weiß werden lässt, dann ist das gut so. Denn ich will ja Werke hinterlassen, die exemplarisch sind und uns auch spieltechnisch weiterbringen.
Diese Zusammenarbeit mit Komponisten: Wenn ein Stück in Arbeit ist, halten Sie sich raus, bis es fertig ist, oder signalisieren Sie dezent, dass man Sie durchaus fragen könnte, falls es mal klemmt?
Ich gehe davon aus, dass die Komponisten ihren Weg finden und genügend Wissen über das Instrument besitzen. Und wenn wie im Fall eines Stücks, das mir jetzt vorliegt und das ich im nächsten Jahr uraufführen werde, die Komponistin mir sagt: Ich denke nie ans Instrument, ich schreib einfach, dann ist das ein hochspannendes Konzept, aber in der Praxis... schwierig?! Irgendwie und irgendwann komme ich mit allem klar, man muss nur genügend Zeit und Geduld einplanen. Ich füge natürlich interpretatorische Impulse ein, verändere Dynamiken, diskutiere über Tempi und Phrasierungen. In den Notentext greife ich in den allerwenigsten Fällen ein – nur wenn wirklich es etwas ist, was physikalisch, unabhängig von meiner eigenen Beschränktheit auf meinem Instrument nicht funktionieren kann.
Weil wir bei Beschränktheit sind: Gibt es noch Dirigenten, die Ihnen widersprechen? Können Sie die dann ernst nehmen?
Wie im Leben überhaupt, ist der Dialog das Spannende und Inspirierende. In der Musik geht es nur über das Zuhören. Man muss nicht einer Meinung sein, dafür ist der Dialog ja da.
Mit welchen Argumenten überzeugt man Sie auf gar keinen Fall? Sind Sie bei bestimmten Dirigenten nachtragend?
Wir sind ja nicht auf dem Kinderspielplatz … Es gab einen Dirigenten in meiner Jugend, das war Herr Celibidache, da lief es etwas unglücklich und es fiel der Satz: Vergessen Sie alles, was Karajan Ihnen je gesagt hat. Das konnte ich natürlich nicht ernst nehmen. Den Kindergarten hab‘ ich dann auch leider bei der Generalprobe beenden müssen.
Wie wichtig ist es, Fehler zu machen? Das Gefühl von Unvollkommenheit ist womöglich nicht das Schlechteste, um sich zu motivieren: Das muss jetzt klappen.
Erstens geht es in der Musik nicht darum, dass etwas klappen muss. Das würde ja heißen, man weiß ganz genau, wie man von A nach B kommt und dann hab‘ ich den Mozart intus. Natürlich ist richtig, dass das Wissen um Unvollkommenheit nicht lähmend sein darf oder muss, sondern ein Vehikel für ein beständiges, aber undogmatisches Suchen nach Lösungen, um auch in verschiedenen Lebensphasen dem Werk Wichtiges und Persönliches mitzugeben. Es eben zu interpretieren und nicht nur gut zu spielen, was auch immer das bedeuten mag.
Ihre Kollegin Hilary Hahn hat sich vor einiger Zeit 100 Tage lang beim Üben für Instagram gefilmt. Könnten Sie das oder bleibt die Tür zu und Sie machen das alles schön mit sich selbst aus?
Was ich posten möchte, können Sie gern nachlesen. Und was ich nicht poste, das habe ich nicht gepostet (lacht)
Ab wann ist für Sie klar: Dieser Abend ist meiner?
Musiker sind wie Athleten abhängig von der Tagesform. Es gibt glückhafte Abende und Abende, an denen es schwer ist. Am Ende weiß keiner so recht, woran’s lag. Solange ich weiß, dass ich mich optimalst vorbereitet habe, kann ich mir dafür auch vergeben.
Und das auch schnell? Oder sind Sie mit sich selbst nachtragend?
Nicht mehr. Das ist einfach nicht zielführend. Ich möchte mich ja weiterentwickeln und Selbstgeißelung hat noch nie geholfen. Mit zunehmender Lebenserfahrung kann ich das auch besser einordnen, die großen Momente und auch die schwierigen. Ich messe das Leben nicht an meinen Fähigkeiten als Musiker, sondern letzten Endes an meinen Qualitäten als Mensch – die ich natürlich mit auf die Bühne bringe. Aber es gibt da noch andere Momente im Leben, über die ich mehr ins Hadern komme als über eine falsche Note in einer Kadenz.
Und da hilft es auch nicht, die Geige rauszuholen und aufs Annesophiemuttersein zu verweisen?
Für meine Kinder bestimmt beeindruckend, aber ich hab’s noch nicht versucht. Ich glaube, ich lass es auch lieber.
Gibt es Komponisten, in deren Musik Sie einfach nicht hineinkommen?
Mein Repertoire ist zwar groß, aber es gibt vieles, was ich noch nicht gespielt habe. Und es gibt einige, bei denen ich immer wieder Versuche unternehme, Schönberg beispielsweise, und mich dann doch wieder anderen zuwende.
Fehlt Ihnen das Tutti-Gefühl, dieses Sitzen mitten in den Geigen? Sind Sie als Solistin davon völlig entwöhnt?
Als Solist ist man ja auch eingebettet, in diesen Dolby-Atmos-Klang. Es ist ja nicht so, dass ich nicht im Orchester-Klang drin wäre. Ja, das Tutti-Gefühl… Ich stelle es mir toll vor, ein Dirigent zu sein. Wenn da nicht die Frustration wäre, dass man eben doch nicht die Kontrolle über die kleinen Details hat, die ich als Handwerker am Instrument habe. Ich bin ganz zufrieden da, wo ich bin.
Zitate-Runde. Gidon Kremer: „Als Künstler bin ich verpflichtet, Fragen zu stellen, aber nicht, Antworten zu geben. Man ist verantwortlich für seine Musik.“
Ich würde als Musiker aber schon gern auch Fragen musikalisch beantworten.
Sie wissen schon auch, dass Sie ein Markenartikel sind? Ist das Druck? Ist das egal?
Sie stellen das jetzt so in den Raum… Mir ist wichtig, dass Musik bei mehr Menschen ankommt als nur dem Konzertbesucher. Dass sie mehr in den Alltag, in den Mittelpunkt rückt. Deswegen reißt mich Filmmusik auch so hin, weil es eine Möglichkeit ist, um Brücken zu bauen. Das ist wichtig. Die Präsenz eines Musikers soll ja der Musik dienen und vielleicht auch der Glaubwürdigkeit dieser wunderbaren Kunstform Nachdruck verleihen. Wenn mir das gelingt und ich Repertoire hinterlasse, das Kopfzerbrechen bei Musikern und Aufregung beim Publikum hinterlässt für Generationen to come, dann habe ich meinen Lebenssinn in Teilen erfüllt.
Zum Abschluss drei rasant beantwortbare Fragen. Kino – süßes Popcorn oder salzig?
Am besten gemischt.
Wie geht das denn?
Ja klar, das ist das einzig Wahre. Haben Sie noch nie Karamelleis mit Seesalz gegessen?
Natürlich nicht, warum sollte ich?
Wie es toll ist! Probieren Sie es mal!
Baby Yoda oder der ausgewachsene?
Also, ich bin ja eher selber der ausgewachsene Yoda, da würde ich sagen: Baby Yoda.
Wofür, abgesehen von Ihren Stradivari-Geigen, haben Sie so viel Geld ausgegeben, dass es Ihnen danach wirklich leidtat?
(überlegt) Nichts.
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Wie langweilig. Keine Kleider, Schuhe, Handtaschen?
Nein. Mein Geigenkasten ist meine Handtasche.
Konzert: Die für November geplanten Elbphilharmonie-Auftritte mit dem Gewandhausorchester sind abgesagt. Für 2.12. ist ein Kammermusik-Abend mit Beethoven-Sonaten geplant. Am 15.11. spielt Mutter in der Thomaskirche Leipzig für die Gottesdienste-Besucher, als Auftakt einer Reihe musikalischer Gottesdienst-Gestaltungen, die sie plant. Und als ihr Aufruf, für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung zu spenden.