Tostedt. Ausflugstipp: Mit der urigen Tister Moorbahn in das Herz der Wildnis, in der die Vögel des Glücks jetzt ihre Schlafplätze finden.

Erwartungsvoll stehen sie am Bahnsteig: Paare, Seniorengruppen, Familien mit Kindern. Gleich soll sie kommen, die Tister Moorbahn. Und tatsächlich: Da läuft eine kleine Diesellok in den Bahnhof ein, der mit seinen breiten Dachüberständen, den hölzernen Balken im Giebel, den grüngestrichenen Fensterläden die heimelige Atmosphäre einer längst vergangenen Zeit ausstrahlt und in dem es sogar Kaffee und Kuchen gibt.

Kraniche suchen kurz vor Sonnenuntergang nach Futter. Die Graukraniche (Grus grus) kommen derzeit aus Skandinavien und Osteuropa und machen unter anderem im Tister Bauernmoor Rast.
Kraniche suchen kurz vor Sonnenuntergang nach Futter. Die Graukraniche (Grus grus) kommen derzeit aus Skandinavien und Osteuropa und machen unter anderem im Tister Bauernmoor Rast. © dpa | Jens Büttner

Auf dem Sitz der Diesellock thront Berthold Fedtke, ehemaliger Polizist und einer der fünf Lokführer des Vereins Moorbahn-Burgsittensen. Dieser Verein hat das Tister Bauernmoor im Landkreis Rotenburg zu dem gemacht hat, was es heute ist: eine Touristenattraktion mit mehr als 12.000 Besuchern im Jahr, ohne Remmidemmi und mit höchstem Respekt für den Erhalt dieser einmaligen Landschaft.

Kraniche Tister Bauernmoor
Wie aus einer anderen Zeit: das Haus der Natur in Tiste mit Bahnhof und Gaststätte. © HA | nanette franke

Aus den ehemaligen Torfstichen, die ab 1980 Stück für Stück vom Landkreis Rotenburg aufgekauft, ab 1990 wiedervernässt und 2002 als Naturschutzgebiet ausgewiesen wurden, hat sich ein Paradies für Vögel entwickelt. Ein Drittel der 1220 Hektar Schutzzone, zu der auch das angrenzende Ekel-Moor gehört, sind Wasserflächen, was das Bauernmoor zum Refugium für Kraniche macht.

Bis zu 20.000 Tiere legen im Tister Bauernmoor einen Zwischenstopp ein

Bis zu 20.000 Tiere, so haben Zählungen ergeben, legen hier einen Zwischenstopp ein auf ihrer bis zu 3000 Kilometer langen Reise von Skandinavien in ihre Winterquartiere in Frankreich und Spanien. Nur auf den weitläufigen Lagunen, in denen sie im Stehen schlafen, und auf abgestorbenen Bäumen, die immer noch aus dem Moor ragen, sind sie sich sicher vor ihren Feinden: Fuchs, Wildschwein, Wolf. Manche Kraniche fühlen sich hier so wohl, dass sie dauerhaft bleiben.

Kraniche Tister Bauernmoor
Diente früher zum Torftransport, heute dürfen Besucher darin sitzen: die Moorbahn. Auf der Diesellock sitzt Berthold Fedtke. © HA | nanette franke

Schon in aller Frühe schwärmen sie aus, um auf den Feldern im Umkreis des Tister Bauernmoores Getreide zu fressen. Die Maisernte ist gerade im vollen Gang, für die Vögel des Glücks, die vielen Kulturen seit der Antike als heilig gelten, ein reich gedeckter Tisch. Manchmal machen sich die graugefiederten Gäste auch über die Saat her, dann werden die anmutigen und streng geschützten Gleiter für die Bauern zu Vögeln des Pechs. In früheren Jahren ließen sich Kraniche am besten in Mecklenburg-Vorpommern bestaunen. Inzwischen Ist das Bauernmoor, wo noch bis zur Jahrtausendwende industrieller Torfabbau betrieben wurde, Kranichschauadresse Nummer eins, zumindest in Niedersachsen.

Die Nachfrage nach Moorfahrten ist riesig an diesem sonnigen Tag

Denn der Moorstreifen ist schmal, die Vogeldichte hoch: 20.000 Tiere auf 800 Metern – „das ist einmalig in Deutschland“, sagt Bernd Herzig, Vogelkenner, Fotograf und gute Seele des Vereins, dessen 90 Mitglieder ihre ganze Zeit und Kraft in ihr Herzensprojekt investieren. Gerade rollt der 75-Jährige Herzig per Muskelkraft weitere Waggons heran, die Nachfrage nach Moorfahrten ist riesig an diesem sonnigen Tag.

Kraniche Tister Bauernmoor
Eliah (6) aus Stade begleitet mit seiner Familie Gäste aus Berlin in das Tister Bauernmoor. © HA | nanette franke

Der Lokführer drängt zur Eile. „wir wollen rechtzeitig auf dem Turm sein, wenn sie kommen.“ Der Turm ist einer von zwei Aussichtsplattformen, von denen der Blick auf die Kraniche möglich wird, ohne die Tiere zu stören. Ruckelnd setzt sich die Moorbahn, die früher zum Abtransport der Torfballen genutzt und inzwischen passagierfreundlich ausgestattet wurde, in Bewegung. Der Blick geht auf weite Wasserflächen, in denen sich dunkle Kiefern spiegeln. Im Licht der untergehenden Sonne leuchten Birkenblätter und Pfeifengras, als wären sie aus purem Gold.

Kraniche Tister Bauernmoor
Jan Mentz mit den Söhnen Mio (8) und Nilan (2) ist aus Reinbek gekommen, um Kraniche zu sehen. © HA | nanette franke

Nach zwanzig Minuten Fahrtzeit bei gemütlichen neun Stundenkilometern sind die Türme erreicht. Der eine ist barrierefrei, um Rollstuhlfahrern den Zugang zu ermöglichen. Der zweite ist mit 6,5 Metern deutlich höher und seine etwa 50 Personen fassende Aussichtsplattform bereits gut gefüllt. Junge Mädchen, die in ihren dünnen Sweatshirts schon ein wenig frieren, Mütter mit Kindern, rangermäßig gekleidete Naturkenner, und überall Objektive, von der Kleinstkamera bis hin zu Profigerät mit riesenlangem Tele. Blitzen ist tabu. Das könnte die sensiblen Vögel verschrecken.

Erste Kranichformationen mit ihrer typischen Pfeilform tauchen über dem fernen Waldrand auf

Herzig baut ein Teleskop auf und lässt Interessierte durchschauen. Tatsächlich, da sitzt im Abendschein ein mächtiger Seeadler auf einem Baum, wendet den Kopf, sodass sein scharfer gelber Schnabel gut sichtbar wird. Imposant! In den Moorlagunen schnattern Enten und Gänse. Der Himmel, eben noch in tiefem Blau mit weißen Wolken, färbt sich rosa. Und in der Luft erklingt ein lautes Trompeten. Erste Kranichformationen mit ihrer typischen Pfeilform tauchen über dem fernen Waldrand auf. Doch die Vögel drehen wieder ab. Es ist ihnen jetzt, um 18.30 Uhr, offenbar noch zu früh zum Schlafengehen.

Kraniche Tister Bauernmoor
Bernd Herzig verbringt oft ganze Tage im Moor. Dabei gelingen ihm beeindruckende Nahaufnahmen der dort lebenden Tiere. © HA | nanette franke

Gespannte Stille auf der Aussichtsplattform. „Ich sehe welche“, flüstert ein begeisterter Junge. Doch Herzig muss ihn enttäuschen: „Das sind Enten“, erklärt der Fachmann, „Kraniche fliegen viel ruhiger. Und größer sind sie auch, haben eine Flügelspannweite von über zwei Metern.“ Das zarte Rosa am Horizont wird zu einem fast blutigen Rot

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„Allein für dieses Himmelsspektakel hat sich die Fahrt hierher gelohnt“, kommentiert eine Besucherin. Da plötzlich kommen die Langerwarteten von allen Seiten. Und es wird laut, richtig laut. Überall schwarze Pfeile in der Luft, die die Lagune umkreisen, um kurz darauf auf dem Wasser zu landen. Fast zum Greifen nah.

Kraniche Tister Bauernmoor
Lang erwartet: Kurz vor Sonnenuntergang treffen die Kraniche ein, um im Tister Moor zu schlafen. © HA | nanette franke

Wenige Minuten später wird es dunkel. Aus dem Moorgräsern steigt der Nebel. Die Kranichrufe verstummen. Und so mancher Gast ist froh, nicht zu Fuß zurück zu müssen, denn jetzt ist das Tister Bauernmoor fast ein wenig unheimlich. Mit einem herzlichen Applaus bedanken sich die Passagiere beim Moorbahn-Team. Und viele versprechen: „Wir kommen wieder“. Kein Problem: Die Kranichfahrt-Saison im Tister Bauernmoor geht noch bis Anfang Dezember.

www.moorbahn.de

youtube: Bernd’s Bauernmoor