Selten tickten Bürger und Volksvertreter so unterschiedlich, was auch an den Medien liegen könnte.
Politiker lieben Umfragen – dort bekommen sie nicht nur die aktuellsten Wasserstandsmeldungen über ihre eigene Beliebtheit, sondern auch Einschätzungen zu den Themen der Zeit. Die SPD hat nun ihre parteinahe Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragt, den Hamburgern auf den Zahn zu fühlen. Die Ergebnisse überraschen: Während sich Grüne und eine CDU, die sich nicht schnell genug vom Erbe der Autofahrerpartei emanzipieren kann, einen Wettlauf um autofreie Straßen, Stadtteile und ganze Innenstädte liefern, ist der Bürger offenbar etwas träger.
Als wichtigste Prioritäten der Verkehrspolitik sieht er die Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs, gefolgt von der Aufgabe, den Verkehrsfluss für Autos zu verbessern und Baustellen besser zu koordinieren (28 Prozent). Erst dann folgen die Radler: Nur 22 Prozent finden, dass man auch auf Kosten des Autoverkehrs mehr für Radfahrer tun müsse. Drolligerweise lagen die Grünen bei der letzten Umfrage ebenfalls exakt bei 22 Prozent. Für die CDU könnte die Luft da dünn werden.
Nun sollte man nicht zu viel auf Umfragen geben – sie schauen in die Köpfe und Herzen der Bürger. Aber das Bauchgefühl der Wähler erreichen sie kaum.
Angst vor Klimawandel folgt erst unter ferner liefen
Nötiger wäre ein demoskopisches Endoskop. Kürzlich erforschte die R+V Versicherung wieder einmal die Ängste und Sorgen der Bundesbürger. An erster Stelle rangierte die Furcht vor Zuwanderung. Demnach befürchten 56 Prozent der Deutschen, dass der Staat durch Flüchtlinge überfordert sein könnte. Angst davor, dass der Zuzug zu Spannungen führt, haben 55 Prozent. Immerhin: Die Vorjahreswerte lagen mit 63 Prozent der Befragten deutlich höher.
Trotzdem auffällig: Die Angst vor Klimawandel, Naturkatastrophen und Wetterextremen folgt mit jeweils 41 Prozent erst unter ferner liefen. Noch spannender war die mediale Deutung der Studie: Fast alle Zeitungen und Sender mogelten sich um den Spitzenwert herum: „Deutsche so sorgenfrei wie lange nicht“, freute sich die „Zeit“, der Deutschlandfunk konstatierte „Die neue Gelassenheit“, und der „Tagesspiegel“ baute gleich eine intellektuelle Umgehungsstraße: „Deutsche fürchten hohe Mieten mehr als den Klimawandel.“ Das ist nicht falsch. Aber ist es auch richtig?
Oder befinden sich Medien und Politik längst in einer Blase, die mit den „Menschen draußen im Lande“ nicht mehr so viel zu tun hat? Die Journalistin und frühere Kieler Bürgermeisterin Susanne Gaschke (SPD) hat für die „Neue Zürcher Zeitung“ eine lesenswerte Medienkritik geschrieben. Sie kritisiert in sechs ironischen „Geboten des moralischen Journalismus“ Dinge, die früher in Journalistenschulen noch als Todsünden galten: Empörung, Dramatisierung, Heimatschmähung, Jugendopportunismus, Bevormundung und Tabus.
Bürger geraten schnell aus dem Blick
Die Gebote mögen gut gemeint sein – sind aber das Gegenteil von gut. Wenn Medien und Politik nicht mehr die Lebenswirklichkeit der Menschen treffen, bekommen sie in einer Demokratie und Marktwirtschaft ein doppeltes Problem: Wer will lesen oder hören, was der Zeitgeist bestimmt? Und wer überzeugt Wähler, wenn er selbst nur noch die Lufthoheit über den Universitätsdebatten beherrscht, aber nicht mehr über Stammtischen oder Kinderbetten?
Wenn Angela Merkel im 15. Jahr ihrer Kanzlerschaft den Klimawandel als „Menschheitsherausforderung“ entdeckt, freut sich der liberale Leitartikler – aber erreicht sie so die Wähler? Oftmals drängt sich der Eindruck auf, Politiker wollten vor allem den Medien gefallen – und umgekehrt. Die Bürger geraten dabei schnell aus dem Blick.
Natürlich ist der Klimaschutz lebenswichtig, natürlich ist die Mobilitätswende für Metropolen entscheidend, aber viele Menschen haben eben noch andere Sorgen: Von den Gelbwesten in Frankreich, die rabiat gegen Ökosteuern opponierten, stammt der Satz: „Ihr fürchtet das Ende der Welt, wir eher das Ende des Monats.“ Die soziale Frage kann – wenn es falsch läuft – eine Brisanz bekommen, die alles andere sprengt.
Politiker dürfen, ja, sie müssen mitunter vorneweg marschieren. Aber sie sollten nicht so weit vorweg laufen, dass viele Bürger nicht mehr hinterherkommen. Wenn der Abstand zu groß wird, kommen die Wölfe – und fangen sie ab.