Hamburg.

Ich musste kürzlich in Japan wieder an die ostdeutsche Hymne denken. Anders als viele Ostalgiker, unverbesserliche Linke und neue Rechte halte ich die DDR für ein furchtbar gescheitertes Experiment. Aber die Hymne von Johannes R. Becher und Hanns Eisler atmet einen Aufbruchsgeist, der mich staunen macht. Deutschland lag in Trümmern, moralisch verheert, wirtschaftlich zerstört, die Städte zerschmettert. Und was textete Johannes R. Becher 1948: „Auferstanden aus Ruinen/und der Zukunft zugewandt/lass uns dir zum Guten dienen/Deutschland, einig Vaterland.“

Abgesehen davon, dass viele heute schon beim Wort „Deutschland“ Schnappatmung bekommen und das irgendwie rechtsradikal finden, lässt dieser Optimismus, dieser wilde Zukunftshunger aufhorchen. Irgendwann in den 80er-Jahren muss er verloren gegangen sein. Uns geht es immer besser, aber leider sind wir immer schlechter gelaunt. Und mag das Land auch gespalten sein wie ein Holzscheit nach dem Griff zur Axt, da sind sich ausnahmsweise alle einig: Unsere Welt ist nicht nur schlecht, sie geht auch noch in Kürze unter.

Nur bei den Ursachen besteht ein Dissens: Die Rechten wähnen Deutschland vor dem Untergang, weil immer mehr Zuwanderer kommen und sie deshalb glauben, dass sich das Land abschafft. Manche Linke wiederum wähnen sich in den Endtagen von Weimar, sehen überall Faschisten und erwarten in Kürze eine Machtübernahme durch braune Horden. Vielleicht würde es die Populisten der AfD schon schwächen, wenn man sie nicht ständig starkredete. In bundesweiten Umfragen war diese Partei mit ihrer merkwürdigen Sicht auf die deutsche Geschichte zuletzt deutlich unter 15 Prozent – die überwältigende Mehrheit der Deutschen lehnt sie ab.

Die Jugend wiederum erwartet den Weltuntergang in den kommenden Monaten – und eine immer schrillere Klimadebatte bestätigt sie in ihrer juvenilen Furcht: Im Netz kursieren Videos, die ahnungslos-absichtsvoll den Teufel an die Wand malen – und das Wasser übers Dach steigen lassen. Und die ältere Generation fürchtet die Verarmung, sodass die Großen Koalitionen in den vergangenen Jahren fast im Monatstakt neue Rentenwohltaten beschlossen haben: Die Rente nach 45 Berufsjahren, die Mütterrente, nun die Grundrente – es ging keiner Seniorengeneration so gut wie dieser. Es sei allen von Herzen gegönnt. Aber warum reden wir dann ständig von Altersarmut? Spannender wäre der Blick in die Zukunft: Wie wird es den jungen Menschen von heute im Alter gehen? Und wann denken wir zur Abwechslung mal daran, wie und vor allem wovon wir in den kommenden Jahrzehnten leben wollen? Man vermisst hierzulande eine Lust aufs Morgen genauso wie ein Denken, das weiter reicht als bis zum nächstem Wahltermin.

Ausgerechnet Japan hingegen hat sich ein Zukunftsziel gesetzt. Es heißt „Gesellschaft 5.0“ und soll die großen Linien für die Entwicklung des Landes aufzeigen. Um es klar zu sagen: Der Ausgangslage der Japaner ist um einiges schlechter als die der Deutschen. Die Geburtenrate liegt niedriger als hier, die Demografie ist ein Desaster. Viele Dörfer werden bis 2050 aufgegeben werden, ganze Landstriche die Hälfte der Bevölkerung verlieren. In dem vergangenen Vierteljahrhundert haben zwei Katastrophen das Land heimgesucht: das Kobe-Beben mit mehr als 6000 Toten und der Tsunami von 2011 mit mehr als 22.000 Toten. Statt aber in Depression zu verfallen, will Japan die modernste Gesellschaft werden und technologisch führend sein – in künstlicher Intelligenz, dem Internet der Dinge, Big Data, Medizin und Energieversorgung. Um diese Ziele zu erreichen, forscht Japan an den großen Wertschöpfungsketten.

Und Deutschland? Hierzulande hinken wir in der Technik hinterher, führend sind wir nur noch in der Technikfolgenabschätzung. Die Energiewende etwa treibt zwar die Strompreise, hat aber weder die deutsche CO2-Bilanz nachhaltig verbessert noch eine neue Industrie geschaffen. Ganz im Gegenteil: Nach der Pleite des Hamburger Solarkonzerns Conergy gehen nun bei Senvion die Lichter aus. Unsere Zukunftstechnologien sehen ziemlich alt aus. Wann haben wir von einem führenden Politiker die letzte Vision für 2030 oder gar 2050 gehört? Vermutlich in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts.

Statt uns ständig vor der Zukunft zu fürchten, sollten wir sie gestalten.