Hamburg.
Wäre Europa eine Schulklasse, die Rollen wären schnell verteilt. Es gäbe den notorisch Beleidigten, die Krawallschachteln, die Rabauken, die Mitläufer und Musterschüler. Und es gäbe den Besserwisser: Das ist Deutschland. Er weiß nicht nur alles ganz genau, er belehrt auch gerne seine Kameraden. Und er hält sich für hochmoralisch: Manchmal denkt er, er sei etwas Besseres.
Am vergangenen Wochenende wurde es wieder deutlich: Das Schiff „Sea-Watch 3“ liefert sich seit Monaten eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem rechtspopulistischen Innenminister Salvini in Italien. In der Sache möchte man die Aktivisten unterstützen, doch auch ihnen setzen Gesetze Grenzen: Um Flüchtlinge in Lampedusa an Land zu bringen, soll die deutsche Kapitänin Carola Rackete italienische Polizisten gefährdet und deren Schlauchboot abgedrängt haben. Legal, illegal, scheißegal? Es wäre spannend zu sehen, wie die Deutschen es fänden, wenn italienische Aktivisten so im Hamburger Hafen unterwegs wären. Allein: So weit denken wir kaum. Im Gefühl, recht zu haben, werden wir schnell zu Rechthabern.
Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier belehrt die Italiener: Es könne ja sein, dass es italienische Rechtsvorschriften gebe, wann ein Schiff einen Hafen anlaufen dürfe. „Nur: Italien ist nicht irgendein Staat. Italien ist inmitten der Europäischen Union.“ Wir aber auch. Es ist nicht solidarisch, wenn die deutschen Aktivisten den Beifall bekommen und die Italiener die Migranten. Auch Belehrungen aus dem Auswärtigen Amt bringen nur einen weiter: Salvini. Er nutzt den Streit für seine schäbige Stimmungsmache. Ob er den Deutschen schon eine Kiste Barolo geschickt hat – für die Wahlkampfhilfe?
Auch Jan Böhmermann, TV-Moderator, Satiriker und Aktivist, mischt wieder mit. Er ruft zu Spenden für die Kapitänin auf. Der Bremer darf als Großmeister der moralischen Selbsterhöhung gelten – mit dem praktischen Nebeneffekt, den eigenen Marktwert zu steigern. Unter dem Applaus seiner Claqueure im Mediengeschäft macht er seine Denkweise zum Maß aller Dinge – weltweit. Kürzlich beleidigte er Österreich. In Anlehnung an den Satz des Literaten Thomas Bernhard sagte er, in Österreich lebten „acht Millionen Debile“. Bernhard als Österreicher darf das sagen, aber ein deutscher Moderator? Ist Hate Speech bei Österreichern plötzlich erlaubt? Den österreichischen Kanzler Sebastian Kurz nannte Böhmermann einen „Versicherungsvertreter mit dem ganzen Haargel“. Kurz wird’s freuen – Kritik vom Piefke gilt als moralische Großspende.
Aber vermutlich ist das Satire – so lustig wie Böhmermanns „Schmähgedicht“ gegen den türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan. Da dichtete er: „Sein Gelöt stinkt schlimm nach Döner“ oder „Am liebsten mag er Ziegen f...“ – um sich gleich davon zu distanzieren. Das ist schon ein tolle Sache, was man im öffentlich-rechtlichen Fernsehen machen kann: Böhmermann war mit seinem „zynischen Pipihumor“ (Campino) wieder in den Schlagzeilen – und das Zusammenleben der Deutschen und Türken zugleich wieder schwieriger geworden. Derlei Humor trifft bei vielen Zuwanderern auf wenig Verständnis und oder wird instrumentalisiert. Da wirkt Böhmermann am Ende wie Sarrazin: Er spaltet.
Auch der deutsche Journalismus reitet auf hohem Ross durch Europa: „Spiegel Online“ verriet den Lesern kürzlich, „warum die Schweiz zu den rückständigsten Ländern Europas zählt“, die „HAZ“ weiß Ungarn auf dem „Weg in die Diktatur“, und die Brexit-Briten und Donald Trump sind für viele ohnehin verrückt. Dummerweise wurden sie gewählt. Ähnlich benimmt sich die Politik: Da drückt Deutschland seine Sicht der Dinge ohne Rücksprache und Rücksicht auf Verluste durch. Der Atomausstieg 2011, die Flüchtlingspolitik 2015 und der Kohleausstieg 2019 waren einsame Entscheidungen in Berlin. Man kann sie auch nationale Alleingänge nennen. Und die Belehrungen in der Finanzkrise haben die Südeuropäer nicht vergessen.
Hilfreicher wäre, vom hohen moralischen Ross herabzusteigen und sich hin und wieder in die Köpfe der europäischen Nachbarn hineinzuversetzen. Es geht nicht darum, ihre Entscheidungen zu teilen. Aber verstehen, warum sie gefallen sind, könnte schon helfen.
Denn Besserwisser mag niemand.