Gern zeigen wir mit dem Finger auf die Neuen Bundesländer – aber zur Entfremdung hat auch der Westen beigetragen.

Der Ost-Erklärer hat dieser Tage wieder Konjunktur. Kurz vor den Wahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September werden die Scheinwerfer auf die Bundesländer gerichtet, die gar nicht mehr so neu sind. Aber trotz aller Erklärungen werden viele „Wessis“ den Erfolg der Rechten nicht verstehen. Schlimmer noch – seit den Erfolgen der AfD im Osten ist das wiedervereinigte Deutschland so gespalten wie seit 1989 nicht mehr. Die Wut im Osten trifft auf die Empörung im Westen – und beide schaukeln sich auf.

Mitunter wird übersehen, welchen Anteil am Entfremdungsprozess der Westen trägt. Die Bundesrepublik mag aus Berlin regiert werden und die Kanzlerin Ostdeutsche sein – aber die Republik tickt so westlich wie die verblichene BRD: Der politisch-kulturelle Diskurs wirkt wie eine Weitererzählung der Bonner Republik, nur dass die Diskurshoheit weit nach links verschoben wurde.

Wir leisten uns den Postmaterialismus – solange das Geld aus dem Automaten kommt

Was vor 30 Jahren in Soziologieseminaren an westdeutschen Universitäten gelehrt wurde, ist heute Mainstream: Den Materialismus haben wir überwunden und leisten uns den Postmaterialismus – zumindest solange das Geld aus dem Automaten kommt. Wir sind in derselben Weltuntergangsstimmung wie in den Achtzigerjahren, nur sorgen wir uns heute weniger um den deutschen Wald als um das Weltklima – wir sind ja globalisiert.

Die Nation ist für uns Teufelszeug aus der Mottenkiste der Geschichte. Uns ist Ligurien näher als die Lausitz, Thailand vertrauter als Thüringen. Die Political Correctness engt die Grenzen des Sagbaren immer weiter ein – für viele Westdeutsche ist das ein Kulturgewinn, für viele Ostdeutsche die Erinnerung an den totalitären Staat.

 Die beliebteste Partei sind die Grünen, die ihr Bündnis 90 längst abgestreift haben: Sie haben nun die erste Regierungsbeteiligung der Linkspartei im Westen möglich gemacht. Unterschrieben wurde der Koalitionsvertrag am 13. August. Just auf den Tag 58 Jahre nach dem Mauerbau.

Die AfD steht nirgendwo vor einer Regierungsübernahme

 Vielleicht muss man gar keine Osterklärer befragen, warum der Osten anders tickt – vielleicht liegt es daran, dass er kaum vorkommt oder wenn, dann als Karikatur. Während die Heldentaten der Revolution von 1989 immer mehr verschwimmen und Opfer des sozialistischen Unrechtsstaates als Nervensägen wahrgenommen werden, sind die politischen Nachlassverwalter der Täter geschätzte Gesprächs- und Koalitionspartner. Politische Resozialisierung funktioniert.

Die Linken profitieren dabei von ihrer Abgrenzung nach rechts. Zweifelsohne ist das völkische und nationalistische Denken jenseits der Elbe weit verbreitet – schlimmer noch: Rassismus und Menschenverachtung sind dort nicht nur die Verirrung einer verschwindend kleinen Minderheit, sondern einer zu großen Minderheit. Offensichtlich war der allgegenwärtige Antifaschismus der DDR kontraproduktiv. 

Aber vor Panikmache sei gewarnt: In keinem Bundesland steht die AfD auch nur in der Nähe einer Regierungsübernahme. Und die Protagonisten der Neuen Rechten, die für den Osten zu stehen scheinen, sind in Wahrheit Westdeutsche: Ihr intellektuelle Vordenker Götz Kubitschek stammt aus Oberschwaben, der Scharfmacher Björn Höcke wuchs in Rheinland-Pfalz auf und unterrichtete bis 2014  in Hessen, der brandenburgische Kandidat Andreas Kalbitz kommt aus München.

Und bevor sich Hamburger Medienmacher wieder über das braune Sachsen („Schandfleck“)  mokieren, sollten sie eines nicht übersehen: Es war im ach so liberalen Hamburg, in dem die Schill-Partei 2001 aus dem Stand 19,4 Prozent gewann. Das soll den Rechtsradikalismus im Osten nicht kleinreden – aber es soll eine Anregung zur Mäßigung sein. Wer ganze Bundesländer braun anmalt, drängt die Rechten nicht zurück, sondern macht sie ohne Not stärker.

Im Osten andere Probleme als im politischen Berlin

Wir sollten die Wahlergebnisse als das sehen, was sie sind: Als Aufschrei, dass etwas schief läuft. Wer durch verwaiste Landstriche im Osten streift, in denen es keine Läden oder Schulen mehr gibt und kein Bus mehr fährt, ahnt, dass die Menschen dort andere Probleme haben als das politische Berlin diskutiert. Der Soziologe  Heinz Bude hat eine Idee für den Osten gefordert – „eine bestimmte und auch positiv bestimmbare Rolle in einem Projekt Deutschland“. Dafür muss das Interesse und Verständnis füreinander aber dringend wachsen – auch über den Wahltag hinaus.