Präsident des Bundesverfassungsgerichts trifft bei der Einheitsfeier in Hamburg den Kern der Unzufriedenheit vieler Menschen.

Der Einzige, der aus Hamburger Sicht gefehlt hat, war Udo Lindenberg. Geplant war, dass der Hamburger Ehrenbürger bei der Feier der Deutschen Einheit in der Elbphilharmonie live singt, er wäre der Stargast am frühen Nachmittag gewesen. Allein: Eine Knieoperation kam dazwischen, die gut zehn Tage zurückliegt und es unmöglich machte, dass Udo auf die Bühne im Großen Saal kam.

Mit ihm wäre die Hamburg-Show am 3. Oktober perfekt gewesen. Aber auch so präsentierte sich die Stadt nicht nur als guter Gastgeber, sondern auch als stolze, internationale und lange nicht mehr so steife Metropole. Wer nicht dabei war, hat etwas verpasst.

Lässt Deutschland seinen Bürgern zu wenig Platz zur Entfaltung?

Und, das war das Erstaunliche: Ganz schön viele Gesichter, die man bei so einer Feier erwartet hätte, waren nicht zu sehen. Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder etwa, der lieber um Stimmen bei der Landtagswahl kämpfte, die am nächsten Sonntag ansteht. Auch Robert Habeck und Annalena Baerbock, die beiden wichtigsten Minister der Grünen, waren nicht da, außerdem fehlten der FDP-Vorsitzende Christian Lindner und die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), sodass die erste Reihe der Politik vor allem mit Vertretern der SPD besetzt war (übrigens inklusive Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der mit seiner Frau etwas verloren durch die Elbphilharmonie lief).

Die, die nicht da waren, haben etwas verpasst – vor allem die Rede des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Stephan Harbarth brachte etwas auf den Punkt, was in den Debatten über den Zustand des vereinten Deutschlands und seiner Demokratie oft zu kurz kommt, aber der Kern der Unzufriedenheit vieler Menschen ist. Harbarth sprach über einen Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern zu wenig Luft zur freien Entfaltung lässt, der sich längst in seiner eigenen Bürokratie verheddert hat.

Demokratie sollte sich auch praktisch im Alltag beweisen

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte dieses Problem sehr offen am Tag vor den Feierlichkeiten in einer Fragerunde mit Leserinnen und Lesern des Hamburger Abendblatts angesprochen und zugegeben, dass das Land in vielen Bereichen zu langsam, behäbig und träge sei. Das stimmt leider, und das ist neben der Flüchtlingskrise und der Inflation einer der Hauptgründe, warum anscheinend immer mehr Menschen nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern auch in die Demokratie verlieren – also in unser parlamentarisches System, das sich gerade in einem harten Wettstreit mit aufstrebenden autoritären Staatsmodellen sieht.

Zu Recht wird die Demokratie in Ansprachen gefeiert. Allerdings sollte sie nicht nur intellektuell und moralisch höchsten Ansprüchen genügen, sondern sich auch praktisch im Alltag beweisen: dort, wo jeder spürt, ob Staat und Gesellschaft funktionieren oder nicht. Und das ist das Problem: Oft entsteht der Eindruck, dass unser Gemeinwesen mit seinen kaum zu entwirrenden Regeln den heutigen Herausforderungen und denen der kommenden Jahre nicht gewachsen ist.

Dass Entscheidungen in einer Demokratie Zeit brauchen, dass sie nicht so schnell sein kann wie andere Systeme, weil möglichst viele Menschen mitgenommen werden müssen – geschenkt. Aber dass die Bürokratie an einem Punkt angekommen ist, an dem man Gesetzen und Verordnungen nur Herr werden kann, indem man neue Gesetze und Verordnungen erlässt, ist eine Katastrophe. Das kann so nicht weitergehen. Der Staat muss endlich sich, seine Rolle und seine Funktionen auf den Prüfstand stellen. Und sei es nur, um die Demokratie zu retten.