Hamburg. 170 Abendblatt-Leser stellen dem Kanzler Fragen zu aktuellen Themen. Manche sind frech formuliert – und eine wird gar zur Fangfrage.

Es war ein Heimspiel, wenn auch in einem etwas anderen Rahmen. Schon vor einem Vierteljahrhundert hatte Olaf Scholz als junger Bundestagsabgeordneter zu „Bürgersprechstunden“ nach Altona geladen. „Scholz im Gespräch“ hießen diese Austauschangebote für jedermann. Manche Politkollegen fanden das eher anstrengend, weil Wähler mitunter wortreich und sendungsbewusst über Gott, Hamburg und die Welt plaudern wollen. Scholz hingegen verstand diese Runden als Wissenstransfer – früh lernte er, zu jedem Thema etwas zu sagen.

Am Montag erlebte diese Bürgersprechstunde in einem etwas anderen Rahmen eine Neuauflage – im Börsensaal der Handelskammer mit strengen Sicherheitsvorkehrungen, einer Moderatorin, einem großen Aufgebot von Medienvertretern, einer eingeübten Choreografie und 170 Leserinnen und Lesern des Hamburger Abendblatts. Und ein bisschen erinnerte dieser Kanzlerdialog an früher.

Bitte melden! Die Abendblatt-Leserinnen und -Leser nutzen die Gunst der Stunde, um ihre Fragen an Olaf Scholz loszuwerden.
Bitte melden! Die Abendblatt-Leserinnen und -Leser nutzen die Gunst der Stunde, um ihre Fragen an Olaf Scholz loszuwerden. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Olaf Scholz: „Das Fischbrötchen steht an Nummer 1“

So änderte sich die Abfolge der Themen rasend schnell, binnen Minuten ging es um die ganze Welt. Die Spitzenthemen der Demoskopen – die Wirtschaftskrise, die Energiepreise, die Zuwanderung, die Rente, die Mieten – trafen frontal auf den Kanzler. Nach einem freundlichen Warming-up (Scholz im O-Ton über seine Lieblingsspeise: „Das Fischbrötchen steht an Nummer 1“) ging es gleich um die AfD. „Ich hoffe und bin zuversichtlich, dass die große Mehrheit für andere Parteien stimmen wird und weiß, was sie an der Demokratie hat“, betonte der Kanzler und machte damit seinen ersten Punkt beim Publikum.

Von der AfD zur Flüchtlingskrise war der Weg nicht weit: „Deutschland hat von Zuwanderung profitiert, gerade von der Migration europäischer Arbeitskräfte. Aber Fluchtmigration und irreguläre Migration sind ein Problem“, sagte der frühere Bürgermeister. Und zählte umfangreich auf, was die Ampel alles angepackt hat. „Es gibt in Europa nun ein gemeinsames Handeln“, lobte der 65-Jährige. Und stellte klar: „Es muss auch einen besseren Schutz an den deutschen Grenzen geben mit intensiven Kontrollen.“

Deutsche Beamte gebe es bereits auf Schweizer Boden, zusätzliche kämen Kontrollen an der Grenze zu Polen und Tschechien hinzu – bewusst ging er auch auf die viel kritisierte Visapolitik der Polen an. Und noch eine Forderung hatte der Kanzler im Gepäck: „Wir benötigen eine 24-Stunden-Erreichbarkeit und die Digitalisierung der Ausländerbehörden. Hamburg ist übrigens längst vollständig digitalisiert.“

Beim Bürgerdialog erhielt Olaf Scholz Unterstützung von einer Moderatorin.
Beim Bürgerdialog erhielt Olaf Scholz Unterstützung von einer Moderatorin. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Scholz über Flüchtlingskrise: „Kontrollverlust darf es nicht geben“

Scholz versprach den Bürgern die Ausweitung sicherer Herkunftsländer. „Wir gucken alle Verfahrensschritte an und ändern sie. Es gibt nicht den einen Knopf, der die Lösung bringt. Aber wir drehen an vielen kleinen und großen Stellschrauben. Einen Kontrollverlust darf es nicht geben.“

Das Publikum war gemischt, aber durchweg bürgerlich – höflich im Ton, mitunter kritisch im Inhalt. Fast jeder begann seine Frage mit einem fröhlich-norddeutschen „Moin Herr Bundeskanzler“ und stellte kurze klare Fragen. Scholz wandte sich den Fragenden persönlich zu, locker im Anzug, aber ohne Krawatte, eher auf Augenhöhe als in Berliner Pressekonferenzen.

Klar und nicht ohne Ironie kritisierte er den russischen Präsidenten und dessen Angriffskrieg: „Putin träumt von einem neuen Jalta, wo das Land neu verteilt wird. Er will sein Land größer machen.“ Der Kanzler stellte klar. „Man darf keine Grenzen mit Gewalt verschieben. Wenn jetzt alle ihre historischen Grenzen wiederherstellen wollen, bekommen wir 100 Jahre Krieg.“ Zugleich betonte er: „Wir müssen alles tun, dass dieser Krieg zu Ende geht.“

In 90 Minuten um die Welt – vom Mindestlohn bis zum Ukrainekrieg

Von der Energiewende („Ein Parforceritt“) ging es über die Digitalisierung („Wir sind nicht digital genug“), die Abstimmungsprobleme in der Ampel („In diesem Fall haben die Medien korrekt berichtet“) und den Rechtsstaat („Wir stehen im internationalen Vergleich sehr gut da“) bis zum Mindestlohn („Arbeit muss ordentlich bezahlt werden“).

Einen großen Raum nahm die Sozialpolitik ein: „Ich bin gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters“, stellte der Kanzler klar. „Aber wir müssen die Potenziale besser ausschöpfen“, sagte er und sieht diese etwa bei älteren Arbeitnehmern, Teilzeitbeschäftigten und „tüchtigen Einwanderern“. Zugleich nimmt er Flüchtlinge stärker in die Pflicht: „Wer hier ist, sollte etwas tun.“ Dass es mitunter anders sei, gehe „manchen schon auf den Keks“.

Für den Bundeskanzler gab es ein butes Themen-Potpourri.
Für den Bundeskanzler gab es ein butes Themen-Potpourri. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Ein bisschen bleibt Scholz auch Hamburger Bürgermeister

Immer wieder kam im Bundeskanzler der Hamburger Bürgermeister durch. „Ich bin stolz darauf, dass wir in Hamburg ein Wohnungsbauprogramm losgetreten haben“, sagte er. „Seit 2011 wurden hier 100.000 neue Wohnungen gebaut.“ Jetzt werde man im ganzen Land mehr bauen, höher bauen, mehr geförderten Wohnungsbau ermöglichen. Bis ins Detail hat der Kanzler Zahlen parat – er kennt die Zinssätze der Siebziger und den Wohnungsbaurekord von 1973, als mehr als 700.000 Sozialwohnungen entstanden – wohlgemerkt pro Jahr. Und er warnte vor Engpässen am Arbeitsmarkt, wenn 13 Millionen Babyboomer in Rente gehen.

Interessant waren seine Ausführungen auf die Frage, ob die Senkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie über das Jahresende hinaus weitergeht. „Das wird vom Geld abhängen“, sagte der Kanzler und machte so Kneipiers und Resterauntbetreibern leise Hoffnung. Ein Nein jedenfalls klingt anders – und der Kanzler scheute sich sonst am Montag nicht, auch mal Nein zu sagen.

Fangfrage für Scholz: „Wie hoch sind die Spritpreise?“

Es gab auch mutige und freche Fragen. „Sie haben gesagt, wer Führung bestellt, bekommt sie auch. Wann geht es los? Oder ist das Bestellformular noch nicht angekommen“, fragte ein Hamburger. Scholz blieb ruhig und betonte, er führe: „Ich bleibe standhaft und verfolge einen klugen, abgewogenen Kurs bei der Unterstützung der Ukraine – das ist Führung.“ Dafür gab es den Beifall der Bürger.

Mit seiner Richtlinienkompetenz in der Bundesregierung will Scholz es nicht übertreiben. Zwar habe er die Möglichkeit, damit „ab und zu mal“ in strittigen Fragen in der Ampel-Koalition mit Grünen und FDP eine Entscheidung herbeizuführen. Aber das könne man nicht jeden Tag machen.

Ein junger Mann versuchte es mit einer Fangfrage: „Wie hoch sind die Spritpreise?“ Kurz kam der Kanzler aus dem Konzept, fing sich aber rasch. „Wieder sehr, sehr hoch. Inzwischen sind wir bei 1,80 Euro gelandet.“ Einige im Publikum atmeten laut aus, offenbar weil sie gerade deutlich teurer getankt hatten. Aber ein Blick ins Netz in Echtzeit bewies, dass der Kanzler so schlecht nicht lag. Super kostete während des Kanzlerdialogs 1,83 Euro, Diesel 1,80 Euro.

Einige Abendblatt-Leser nutzten den Bürgerdialog für ein Selfie mit dem Kanzler.
Einige Abendblatt-Leser nutzten den Bürgerdialog für ein Selfie mit dem Kanzler. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Am Ende zeigte sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sehr zufrieden – viele baten um ein Selfie mit dem Kanzler. „Sie müssen mehr erklären“, appellierte eine Bürgerin an Olaf Scholz. Und der antwortete: „Ein bisschen mache ich das ja hier.“

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Am Ende bot der Nachmittag ein buntes Potpourri: Ein bisschen Wahlkampf („Deshalb werbe ich dafür“), ein bisschen politische Bildung, ein bisschen Bürgersprechstunde. Von Scholz stammt der Satz: „Um zu erfahren, was die Menschen in der Stadt bewegt, muss die SPD den Menschen mehr als bisher zuhören.“ Der Satz ist 20 Jahre alt. Aber er passt noch heute.