Hamburg. Innenministerin Nancy Faeser steht vor dem Migrationsgipfel unter Druck – von den Kommunen und bald auch vom Wähler.
Politik kann ein grausames Geschäft sein. Es ist mäßig bezahlt, die astronomische Zahl der Überstunden erinnert an die Schuldenuhr, und als Dankeschön gibt es oft Häme, Hass und Hetze. Da verwundert fast, mit welchem Eifer und Enthusiasmus viele Politiker ans Werk gehen.
Dieser Enthusiasmus wohnte dem Anfang der Ampel inne: „Mehr Fortschritt wagen“, war im Koalitionsvertrag im Dezember 2021 zu lesen. „Ein Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Das klang nach Aufbruch nach dem Merkelschen Mehltau, das klang nach Mut und einer Melange aus Weitsicht, Umsicht und Rücksicht. Ein Bündnis, das Brücken zu bauen vermag.
Die Ampel steht an der Abbruchkante
17 Monate später steht der Aufbruch an der Abbruchkante – und unklar ist, wie es weitergeht. Und wie lange. Inhaltlich hält die ungleichen Partner nur noch wenig zusammen, am ehesten ketten die tagesaktuell erhobenen Meinungsumfragen die Dreiergruppe aneinander. SPD und FDP liegen um mehrere Prozentpunkte unter dem Ergebnis der Bundestagswahl, und die Grünen taumeln ihm aus Umfragehöhen entgegen. Die Opposition muss nicht viel machen, sondern kann zuschauen und sich zurücklehnen: Union und AfD befinden sich auch so im Aufwind.
Politik kann ein grausames Geschäft sein. Denn als SPD, Grüne und FDP ihren Vertrag feierlich besiegelten, war die Welt eine andere: Es herrschte Frieden in Europa, die Energieversorgung war kein großes Thema, die Wirtschaft erwartete den Aufschwung, Inflation interessierte nur Wirtschaftsseminare, nicht die Stammtische. Es war eine Welt, in der vieles möglich und machbar schien.
Eine Fülle von Problemen prasselt auf die Koalition ein
Heute sind wir zurückgeworfen in eine Zeit, die wir überwunden glaubten – die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts erinnern mehr an die Dekade vor 100 Jahren, als uns lieb sein kann. Es ist Krieg in Europa, die Inflation auf Rekordhöhe, die Energieversorgung unsicher, die Industrie in Aufruhr, Streiks lähmen die Republik, das Land wird ärmer. Zudem kämpft die Ampel mit Altlasten, die mit jedem Tag größer werden – eine verfehlte Energiepolitik, eine naive Migrationspolitik, eine Gießkannenpolitik des jedem wohl, niemandem weh. Da bleibt wenig Platz für einen Aufbruch.
Gefragt ist nun vor allem Pragmatismus und Flexibilität – die Wahlprogramme von 2021 stammen aus einer anderen Zeit. Der Kanzler hat das bei seiner Zeitenwende-Rede gezeigt. Die Grünen haben ihre pazifistischen Wurzeln gekappt, um dann umso störrischer am Atomausstieg festzuhalten. Mir wäre wohler ums Land, die Entscheidung wäre andersherum ausgefallen. Und wo ist die Flexibilität der FDP? Ein Blick auf Autobahnen mit „freier Fahrt für freie Bürger“ gibt die Antwort.
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Dämmert allen, dass sich die Zeiten geändert haben? Blickt man nach Berlin, wachsen die Zweifel. Und es steht zu erwarten, dass die Fliehkräfte zwischen den drei ungleichen Partnern zunehmen werden. Die nächsten großen Herausforderungen warten schon: Die Verteilungsspielräume werden kleiner, die ständig fließenden Steuermilliarden, die als Kitt die große Koalition zusammenhielten, könnten bald nur noch tröpfeln.
Wähler haben wenig Verständnis für die Zumutungen der Zeit
Die Klimapolitik, von einer breiten Mehrheit gewünscht, gibt es nicht zum Nulltarif. Die Welt zerfällt in altes Blockdenken, allüberall ploppen neue Konflikte auf. Und der nächste Winter wird wieder zur Herausforderung. Schon heute biegt die nächste Flüchtlingskrise um die Ecke. Die Koalition, die mehr Fortschritt wagen wollte, muss sich der Realität stellen. Und die ist bitter.
Denn die Wähler haben wenig Verständnis für die Zumutungen der Welt. Im Oktober wählen Bayern und Hessen. Dann bekommen der lauteste Scholz-Kritiker Markus Söder und Innenministerin Nancy Faeser ihren Auftritt. Der eine dürfte in Bayern triumphieren, die andere könnte in Hessen untergehen. Der Ampel droht die Quittung für ihre Migrationspolitik.
Das Thema Migration könnte die Wahlen mitentscheiden
Auch die ist noch nicht im Jahre 2023 angekommen: Zu viel Idealismus, zu wenig Härte. Aktuell fordern 52 Prozent der Deutschen, weniger Flüchtlinge aufnehmen. Immerhin mehren sich die Anzeichen vor dem Migrationsgipfel, dass Nancy Faeser eine Kurskorrektur einleitet. Denn eine krachende Niederlage der Innenministerin in Hessen könnte die fragile Architektur der Ampel zusätzlich erschüttern, zumal auch die FDP in Umfragen dort nur knapp über der 5-Prozent-Hürde dümpelt.
Das Bündnis „für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ droht an der Realität zu scheitern. Politik kann ein grausames Geschäft sein.