Proteste und Chaos – das hatten Politik und Medien angekündigt. Die Panik war unbegründet. Der Fokus sollte sich in Zukunft ändern.

Die deutsche Politik und Öffentlichkeit hat in den letzten Monaten im Bann eines Katastrophenmythos existiert, den populistische Zündler zu schüren vermochten, kurioserweise in einer ungewollten, aber doch seltsam hysterisch wirkenden Kooperation mit klassischen Medien, Verfassungsschützern, Politikerinnen und Politikern. Mal ganz konkret: Ende Juli 2022 warnt Annalena Baerbock vor „Volksaufständen“, falls das Gas dramatisch knapp werde. Innenministerin Nancy Faeser sieht die Gefahr von Massenprotesten.

Auch Verfassungsschützer und politische Kommentatoren schalten sich in ähnlich düsterer Tonlage zu. Die zunächst diffusen Warnungen werden dann von Rechtsradikalen registriert und im eigenen Milieu euphorisch verstärkt, wie Social-Media-Analysen der Forschungsstelle „Gegen Hass im Netz“ im Detail zeigen.

Gastbeitrag: Den bedrohlichen Wutwinter hat es doch nicht gegeben

Das heißt: Es entsteht im Zusammenspiel der verschiedenen Stimmen und Öffentlichkeiten eine Art Verunsicherungs-Pingpong. Die AfD installiert eine eigene Website mit einem Blackout-Melder, um die angeblichen überall drohenden Stromausfälle zu dokumentieren. Einschlägige Anbieter bewerben hektisch Prepper-Produkte – Handbücher für den Ernstfall, Stromgeneratoren, Dosen mit Hühnereipulver („Emergency Food“). Rechtsradikale Strategen in Deutschland und Österreich räsonieren darüber, wie sich die Risse und Gräben in der Gesellschaft noch weiter vertiefen ließen. Manche träumen von einer Art Gelbwesten-Bewegung, andere von Protesten nach dem Vorbild kanadischer Trucker.

In den Katakomben von Telegram-Kanälen ist parallel von Chaos, von Bürgerkrieg und Zerfall zu lesen. Der Umsturz kommt bald, ganz bald; da ist man sich sicher. Fakt ist jedoch, Stand heute: Die Massenproteste fielen aus. Den Wutwinter hat es nicht gegeben, dies gleich aus mehreren Gründen. Zum einen halfen die milliardenschweren Entlastungspakete der Politik, zum anderen war der Winter milder als gedacht. Überdies wurde nach Kräften Energie gespart, der Ersatz von russischem Gas gelang schneller als gedacht, und die deutsche Wirtschaft brach nicht wie erwartet drastisch ein. Schließlich zeigte sich die deutsche Bevölkerung seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Mehrheit solidarisch mit den Menschen in der Ukraine, trotz der explodierenden Gaspreise, der Inflation und der im Alltag erlebbaren Härten. Genau besehen sind das ziemlich gute Nachrichten, oder?

Warnungen sollten disziplinierter formuliert werden

Man könnte es dabei bewenden lassen und sich im Stillen freuen, dass die Strategien rechtsradikaler Verelendungstheoretiker keinen Erfolg hatten. Aber die öffentliche Dominanz des Wutwinter-Geredes offenbart die enorme Macht der Angst unter den aktuellen Medien- und Kommunikationsbedingungen. Das Fatale ist: Eigentlich sind in diesem hoch nervösen, beständig pulsierenden Wirkungsnetz irgendwann alle Teil des Spiels, die Mahner und Warner, die rechtsradikalen Strategen, die profitgierigen Angstunternehmer und die Fantasten mit ihrem Umsturzgerede, aber auch die etablierten Medien und die Politikerinnen und Politiker der Mitte, die maximal düstere Untergangsprognosen verbreiten.

Was also tun? Es gibt keine leichte, keine einfache Lösung, dies ist gewiss. Vielleicht sollte man die Ignoranz von Idiotien zur neuen Kommunikationstugend ausrufen. Vielleicht sollte man auch gut gemeinte Warnungen disziplinierter formulieren oder sie doch zumindest mit einer Art Beipackzettel zum Informationsgebrauch versehen, frei nach dem Motto: „Niemand weiß bislang, ob es irgendwann wirklich zu Volksaufständen kommt. Wir vermuten jetzt einfach mal so herum.“

Die Resilizenz der Gesellschaft feiern, anstatt nur über mögliche Krisen zu sprechen

Und nur mal nebenbei: Unter dem Hashtag #Wutwinter sammelt sich inzwischen jede Menge Spott auf Twitter. Auch hier zeigt sich eine Strategie, man lacht das Untergangsgeschwätz von populistischen Zündlern einfach weg. In jedem Fall ist es an der Zeit, in der Breite der Gesellschaft Techniken der Abkühlung zu trainieren und die Bekämpfung von Erregungsepidemien einzuüben. Und vielleicht gilt es mitunter, die Solidarität, die Stärke und die Krisenresilienz von Menschen und ganzen Gesellschaften zu feiern – das wäre doch eine schöne Möglichkeit, oder?

Bernhard Pörksens jüngstes Buch: „Die Kunst des Miteinander-Redens“ (gemeinsam mit dem Hamburger Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun)