Mit einer Mischung aus Starrsinn und Schönreden blickt die Ampel auf die neue Flüchtlingskrise.

1992 tobte ein Krieg in Europa: Im ehemaligen Jugoslawien kam es zu Belagerungen, Mord, Massakern. Doch in der Bundesrepublik führte man andere Diskussionen. Wegen des Krieges strömten so viele Menschen ins Land wie nie zuvor: Die Zahl der Asylanträge erreichte den Rekordwert von 438.191. Aufgeregt schrieben Medien über Asylmissbrauch, der „Spiegel“ titelte im Jahr zuvor: „Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten – Ansturm der Armen“. Auf dem Cover war ein Boot zu sehen, das förmlich überrannt wird. Die Politik fürchtete eine „Staatskrise“, Union und SPD einigten sich auf einen Asylkompromiss, die Zahlen gingen daraufhin deutlich zurück.

Heute tobt wieder ein Krieg in Europa, allein 2022 dürften 1,3 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen sein. Rund 1,045 Millionen flohen vor Putins Angriffskrieg, hinzu kamen 244.132 Asylbewerber. Tendenz steigend. Die Zuwanderung wird wie gottgegeben akzeptiert, in vielen Medien spielen die Zahlen kaum eine Rolle, und die Parteien streiten lieber übers Gendern oder Windanlagen. Hannovers grüner Oberbürgermeister Belit Onay nannte Forderungen nach Zuzugsbeschränkungen „Phantomdebatten“.

Die Deutschen haben – anders als fast alle Nachbarn in Europa – immer noch nicht gelernt, rational, mit kühlem Verstand und ohne heiße Herzen Migration zu diskutieren – und zu steuern.

Mit einer Mischung aus Starrsinn und Schönreden blickt die Ampel auf die neue Flüchtlingskrise

Vor 30 Jahren regierte ein ausländerfeindlicher Ton, Politik und Medien blickten nur auf die Interessen der eigenen Nation und leugneten, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland sei. Heute ist alles anders, vernünftiger ist es leider nicht. Schon die Frage, wo die Grenzen der Aufnahmefähigkeit liegen, gilt als politisch verdächtig. Deutschland kreist um sich selbst und sieht nur noch den moralischen Imperativ: Wir müssen helfen. Das stimmt zweifellos. Ob vielleicht auch andere etwas mehr helfen könnten, spielt in unseren Debatten aber keine Rolle.

Frankreich etwa hat weniger Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen als Baden-Württemberg. Ungarn weniger als Hamburg. Warum? Die EU-Kommission, die nun ihr zehntes Sanktionspaket gegen Russland schnürt, hat noch kein einziges wirksames Programm auf den Weg gebracht, wie die gesamte Union solidarisch helfen kann. Wieso?

Die Frage, warum die Bundesrepublik sogar Ukraine-Flüchtlinge mit anderer Nationalität aufnimmt, die in ihre Heimat zurückkehren könnten, stellt kaum jemand. In Deutschland wundert sich auch niemand darüber, dass jeden Monat Tausende Flüchtlinge über die reiche Schweiz einreisen, um lieber hier einen Asylantrag zu stellen. Weshalb? Statt über mehr Rückführungen diskutieren wir eher neue Anreize, nach Deutschland zu kommen.

Nun muss man jeden Flüchtling verstehen, der für sich und seine Familie die beste Zukunft sucht. Flucht ist kein Verbrechen. Es ist aber auch kein Verbrechen, wenn ein aufnehmender Staat definiert, wo seine Grenzen liegen. Egal, ob in Schulen oder Krankenhäusern, in Ämtern oder auf dem Wohnungsmarkt, es gibt Grenzen der Belastbarkeit. Es zeugt von viel Hilfsbereitschaft und Improvisationsvermögen, dass Deutschland gerade die zweite Flüchtlingswelle binnen acht Jahren erstaunlich professionell managt. Aber Handwerker wissen: Nach fest kommt ab.

„Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit“

Wenn wie in Berlin Senioren für Flüchtlinge weichen müssen, in den Schulen der Unterricht nicht mehr funktioniert oder Sporthallen über Monate belegt werden, kippt die Stimmung. Die Kommunen warnen nicht aus Jux und Tollerei. Einige mutige Politiker haben es jetzt benannt: Viele Kommunen könnten „dem hohen Aufkommen an Migranten nicht standhalten“, es fehle ein „Konzept für eine gelungene Integration oder die konsequente Rückführung von Geflüchteten in ihre Heimat“, schrieben Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der frühere Grünen-Fraktionschef Rezzo Schlauch und die Ex-Spitzenpolitikerin Rebecca Harms.

„Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit“, wusste der große Sozialdemokrat Kurt Schumacher. Unsere Nachbarn schauen längst anders auf die Wirklichkeit. Selbst Schweden, einst Vorreiter liberaler Zuwanderung, hat seine Politik radikal geändert, das Asylrecht verschärft und Grenzkontrollen eingeführt. In allen anderen Ländern sind solche Forderungen längst Mainstream. Bei uns sind sie populistisch.