Mit Helmut Schmidt verliert das Land einen großen Kanzler – und einen Politikertyp, der selten wird

In Trauer verharrt die Republik. Als sich Kanzlerin Angela Merkel im Beisein von Bundespräsident Gauck und Außenminister Steinmeier ins Kondolenzbuch für Helmut Schmidt einträgt, scheint die Zeit stillzustehen. Ein Blumengesteck, ein Foto des Hamburgers mit Trauerflor, die Staatsflagge: ein Stillleben, das die Größe des Staatsmanns Schmidt und die Würde dieser Republik zugleich einfängt. In dem Moment erinnert die Berliner Republik an die verflossene Bonner Republik. Aber nur für einen Moment. Zwischen dem Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974–1982) und der Kanzlerin Angela Merkel (seit 2005) liegt ein Vierteljahrhundert. Aber eine politische Ewigkeit.

Typen, wie Helmut Schmidt einer war, sind in der Politik fast ausgestorben. Der Altkanzler galt als Architekt des Nato-Doppelbeschlusses, der in der Nachrüstung endete. Unbeirrt hielt der Kanzler an seiner Position fest, auch als die Unterstützung in seiner SPD für die Stationierung wegrutschte wie Sand in einer Sanduhr. Am Ende blieben Helmut Schmidt nur wenige Getreue. Er verlor nicht nur die inner­parteiliche Auseinandersetzung, sondern auch das Kanzleramt. Isoliert, aber unbeugsam.

Bereut hat Schmidt seine Standfestigkeit nie, weil er von seiner Position überzeugt war. Diese Position, diese Haltung „Erst das Land, dann die Partei“, blitzte noch einmal auf – in der Agenda-Reform von Kanzler Schröder. Beide Entscheidungen verbindet, dass sie so unpopulär wie richtig waren, die Geschichte aber beide nicht belohnte.

Jede Zeit gebiert ihre Politiker. Helmut Schmidt wusste um seine Härte und Konsequenz, einige würden es Starrsinn nennen, und erklärte sie mit seiner Sozialisierung. Schmidt stammte aus der Kriegsgeneration, und oft leitete er daraus eine Überlegenheit gegenüber Nachgeborenen ab. Seine traumatischen Erfahrungen immunisierten ihn gegen Stimmen und Stimmungen. Umfragen waren ihm egal, sie spielten aber auch kaum eine Rolle. In den 70er-Jahren lebten die Menschen in einer anderen Republik, es gab nur drei TV-Programme und die Presse. Die Politik glich einem langen, ruhigen Fluss. Heute ist sie ein Wildwasser, das viele – zu viele – mitreißt. Auf allen Kanälen und in den sozialen Netzwerken wird im Kampf um die Aufmerksamkeit aus allen Rohren geschossen. So mancher Schuss geht daneben und erledigt ganze Karrieren. In diesem Umfeld der permanenten Aufregung und Skandalisierung wären Größen der Bonner Republik gescheitert, bevor sie zu Staatsmännern reifen konnten. Heute hätten Strauß oder Brandt wegen ihrer Affären keine Chance mehr. Auch ein Helmut Schmidt dürfte es schwer haben. Er hatte eine Position – und ließ sich nicht drängen.

Angela Merkel, die als Radikalliberale 2005 ins Kanzleramt strebte und heute vor allem von links Beifall bekommt, ist ein anderer Typ. Ihre Kehrtwenden beim Atomausstieg, Mindestlohn oder Wehrpflicht waren Schmidt stets fremd. Aber anders als die SPD bestimmt sie ihre Position noch selbst. Die SPD hingegen ist Getriebene, die sich partout links von der Kanzlerin positionieren will – egal wie weit der Ausfallschritt der Kanzlerin wie jetzt in der Flüchtlingskrise auch reicht. So können die Sozialdemokraten nicht einmal vom größten Fehler der Kanzlerin – dem Ausrufen offener Grenzen – profitieren, weil sie stets das Gleiche oder mehr wollten. Merkel hingegen zeigt in dieser Frage plötzlich Starrsinn, eine fast schmidtsche Unbeugsamkeit. Ob die Geschichte ihr aber recht gibt, steht noch dahin.

Und doch: Haltung, Position und der Glaube an die eigene Überzeugung sind in der Berliner Republik selten geworden. Das macht den Abschied von Helmut Schmidt noch schwerer.