Börsenindizes zeigen, wie verunsichert und wenig berechenbar die Wirtschaft ist.
Der Markt irrt nicht, heißt eines der vielen schönen Bonmots aus der Wirtschaftswelt. Die riesige Zahl von Anlegern, so die Logik dieser Weisheit, bilde mit ihren Entscheidungen insgesamt eine Art Schwarmintelligenz, die jeder einzelnen Ratio überlegen sei. Leider widerlegt der Alltag diese gern zitierte Überzeugung immer aufs Neue. "Der Markt" kann furchtbar irren, denn er ist verführbar, irritierbar, manipulierbar.
Nicht nur spannende Hollywoodfilme wie "Wall Street" mit Michael Douglas als Börsenhai Gordon Gecko haben uns dies trefflich vor Augen geführt, sondern vor allem die Realität selbst, zum Beispiel am 15. September 2008. Da brach die US-Investmentbank Lehman Brothers zusammen. Das Ereignis führte die Weltfinanzwirtschaft an den Rand des Kollaps. Tragisch: Hatte die Bank nicht jahrelang, wie so viele ihrer Konkurrenten, feinste Geldanlagen offeriert, zum Beispiel am US-Immobilienmarkt?
Börsenaffine Menschen gründeln und grübeln derzeit, ob der deutsche Leitindex DAX am Jahresende bei 8000 Punkten stehen werde - derzeit sind es knapp unter 7000. Prognosen und Weissagungen darüber sind in etwa so werthaltig wie die Aussage, wer wohl Herbstmeister in der Fußball-Bundesliga werden wird. Es sind Wetten mit einem hohen Unterhaltungs-, aber ohne jeden Informationswert. An den Börsen zeigt sich die Erotik des Irrationalen tagtäglich wieder in Millionen von Kaufentscheidungen: Anleger stoßen ihre Aktien kerngesunder Industriekonzerne ab, nachdem diese glänzende Quartalszahlen vorgelegt haben. Viel besser kann es wohl nicht werden, denkt der Aktionär und folgt der Empfehlung des Bankberaters: verkaufen. Wertpapiere undurchsichtiger Internetklitschen hingegen werden gehalten. Denn vielleicht verbirgt sich ja gerade hier die entscheidende Geschäftsidee des 21. Jahrhunderts. Millionen Anleger haben solche Euphorie teuer bezahlt, als vor elf Jahren die Börsenblase der "New Economy" platzte.
Mit Anteilsscheinen der Staatsunternehmen Telekom und Post wollte die Bundespolitik die Deutschen in den 90er-Jahren zu "Volksaktionären" machen, zu Miteignern stocksolider Konzerne, die Dienstleistungen für jedermann vermarkten und damit eine sichere Bank darstellen. Solche Papiere dümpeln heutzutage um ihren einstigen Ausgabekurs herum oder liegen knapp darunter - wenn die Aktionäre Glück haben.
Mehr denn je erscheint das Treiben an den Börsen als Zockerei. Zum einen wegen der teils wirren Moden in der Unternehmenswelt. Heißt es heute, ein Logistikkonzern müsse "voll integriert" sein und über ein enges Netz von Hamburg bis Hanoi verfügen, verlangt der Markt morgen möglichst schlanke Strukturen und überschaubare Geschäftseinheiten. Fertigte Daimler gestern von der AEG-Waschmaschine bis zur Ariane-Weltraumrakete alles Mögliche, auch Automobile, verlassen heute nur noch Premiumfahrzeuge mit dem Stern die Fabriken des Stuttgarter Konzerns. Milliarden Euro oder Dollar an Werten pulverisieren Manager jährlich auf der Suche nach dem rechten Weg.
Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass politische und ökonomische Einflüsse auf die Märkte in der globalisierten Welt so vielschichtig sind wie nie zuvor. Und dass sie, via Internet, schneller sichtbar werden denn je. In diesem Sinne stimmt das Bild, dass die Verläufe von Börsen eine Art Fieberkurve der Wirtschaft darstellen. Der DAX und seine Pendants in anderen Staaten zeigen heutzutage eine nervöse, verunsicherte und angeschlagene Weltwirtschaft.
Ändern ließe sich das wohl nur, wenn sich "die Wirtschaft" darauf konzentrieren würde, wesentliche Bedürfnisse von Menschen zu erfüllen, anstatt immer neue zu kreieren. Wenn sie mehr Werte schaffen würde anstelle von Wetten auf die Zukunft.