Berlin. Buntes Musical mit viel Pomp und zeitgemäßer Botschaft: Die Verfilmung des Bühnenhits „Wicked“ ist eine Ehrenrettung der Märchenhexe.
Ding, dong, die Hex‘ ist tot. Das ist, spätestens seit „Hänsel und Gretel“, ein klassisches Märchenende. Und wird als Happy End gefeiert. Auch wenn dieses diffamierende Stereotyp auf die Hexenverbrennungen des Mittelalters zurückgeht. Eigentlich erstaunlich, dass in diesen woken Tagen, da man Kinderbücher allerorten nach Political Correctness durchleuchtet und abändert, die Hexe noch nicht auf dem Index steht.
Aber es gibt auch Gegenbeispiele. Wie das Musical „Wicked“. Während zu Weihnachten in vielen Opernhäusern wieder Humperdincks „Hänsel und Gretel“ aufgenommen wird, kommt nun die Verfilmung von „Wicked“ in die Kinos. Und zeigt: Es geht auch anders.
Der Film zum Musical zum Buch zum Film
„Wicked“ bezieht sich nicht auf Hänsel und Gretel, sondern auf eine andere, kaum weniger berühmte Hexenfigur: die aus dem Filmklassiker „Der Zauberer von Oz“ aus dem Jahr 1939. Den kennt man wegen Judy Garland und ihrem berühmten Lied „Over the Rainbow“, wegen des damals neuen Farbfilms, der liebevollen Figuren Löwe, Vogelscheuche und Blechmann. Aber auch wegen der Bösen Hexe aus dem Westen mit ihrer giftgrünen Haut und dem spitzen schwarzen Hut.
„Der Zauberer von Oz“ ist in den USA, auch dank der oft gespielten Bühnenfassung, so beliebt, dass Gregory Maguire 1995 mit „Wicked – Die Hexen von Oz“ eine Art Vorgeschichte schrieb, die, so der Untertitel, „wahre Geschichte der Bösen Hexe des Westens“. Ehrenrettung für die zu Unrecht Gehasste! 2003 hat Stephen Schwartz daraus ein Musical gemacht, das seither mit großem Erfolg am Broadway läuft, drei Tonys und einen Grammy gewann und in aller Welt nachgespielt wird. Nur in Deutschland, das einfach nicht musical-affin ist, nicht so oft. Da lief es, mit den deutschen Liedtexten von Michael Kunze, erst zwei Mal: 2007 in Stuttgart und 2020 in Hamburg. Nun aber wurde es verfilmt. Der Film zum Musical zum Buch zum Film soll auch die deutsche Vorweihnachtszeit versüßen.
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Gleich anfangs sieht man hier ein kleines Mädchen mit Löwen, Vogelscheuche und Blechmann in das kunterbunte Fantasieland von Oz laufen. Kleine Replik an den Filmklassiker. Aber dann wird eine andere Geschichte erzählt. Ganz am Anfang verkündet Glinda, die Gute Hexe des Nordens, dass Elphaba, die Böse Hexe des Westens, vernichtet sei. Und ganz Oz feiert das, wie sich das im Musical gehört, mit Tanz und Gesang und dem Eröffnungslied „Keiner weint um Hexen“.
Ein Filmmärchen wie Zuckerwatte: klebrig, süß und aufgebauscht
Doch dann wird die Vorgeschichte erzählt. Wie Elphaba geboren wird, wie alle entsetzt sind, weil sie grüne Haut hat, und wie sie dafür, selbst in der eigenen Familie, ausgegrenzt wird. Die Außenseiterin hat aber auch besondere, magische Gaben, die sie zum Einsatz bringt, wenn man sie zu sehr verhöhnt. So kommt sie auf die Zauberuniversität Glizz, wo sie sich ein Zimmer mit Glinda teilen muss. Zwei, die sich gleich spinnefeind sind. Weil Glinda das pink-blonde Barbie-Klischee schlechthin ist und allen gefallen will. Und Elphaba vor den anderen verhöhnt, um die eigene Beliebtheit zu steigern.
Ein entrücktes Märchen, opulent in Szene gesetzt wie Zuckerwatte: klebrig, süß und aufgebauscht. Und doch mit einem sozialkritischen Unterton, der durch die Besetzung noch verstärkt wird. Der eigentliche Besetzungscoup ist zwar Popstar Ariana Grande als Glinda. Elphaba aber – die im Film liebevoll Elphi genannt wird, wie Hamburgs Elbphilharmonie - wird von der Schwarzen Cynthia Erivo gespielt, die mit dem Broadwaymusical „Die Farbe Lila“ bekannt wurde und in der Serie „Harriet“ die Titelrolle der Sklavenbefreierin spielte.
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Durch die Hautfarbe diskriminiert und ausgeschlossen, das wird hier sehr deutlich ausgespielt. Unterschwellig und doch ganz offensichtlich wird hier Rassismus auch für das ganz junge Publikum verständlich thematisiert. Und nicht nur das. Auch die sprechenden Tiere, die in Oz leben und teils auch an der Universität dozieren, werden diskriminiert und schließlich gar deportiert. Da wandelt sich das Zauberland von Oz zur rassistischen Diktatur. Elphaba kämpft als Einzige dagegen an. Und bricht aus der engstirnigen Gesellschaft aus. Mit einem Ritt auf dem Besen und dem Schlüsselsong des Musicals, „Frei und schwerelos“.
Alles anders also. Der Hexenritt als Befreiungsschlag. Böse sind die anderen. Und doch dieselbe Botschaft wie im „Zauberer von Oz“: Weil da ein Mädchen von einer besseren, toleranten Welt träumt. Nur dass es diesmal nicht die kleine Dorothy ist, die da träumt, sondern deren vermeintliche Gegenspielerin, die grüne Hexe.
Hier singen die Stars noch selbst - und nicht playback
14 Jahre lang hat man an einer Verfilmung des Erfolgsmusicals gearbeitet. Lange wurde Stephen Daldry („The Hours“, „Billy Elliott“) als Regisseur gehandelt, bis er 2020 nach mehreren Verzögerungen ausstieg. Dann übernahm John Chu, der mit den Tanzfilmen „Step Up To the Streets“ (2008) und “Step Up 3D” bekannt wurde und 2021 schon das Musical „In The Heights” verfilmt hat. Chu verzichtete weitgehend auf die bei solchen Big-Budget-Produktionen üblichen CGI-Computereffekte und setzte auf echte Ausstattung.
Bis in die Nebenrollen ist der Film prominent besetzt. Jonathan Bailey, der Star aus „Bridgerton“, gibt den Mädchenschwarm Fiyero, in den sich Glinda wie Elphi verlieben, Michelle Yeoh die Direktorin der Zauberschule, die Elphis Gabe erkennt und fördert. Und als Zauberer von Oz variiert Jeff Goldblum einmal mehr seinen Exzentriker vom Dienst. Die Schauspieler singen selbst und nicht mit fremden Sängerstimmen, ihr Gesang wurde auch nicht vorab aufgenommen, sondern während der Dreharbeiten. Was dem Musical sehr bekommt, weil es weniger künstlich und live-haftiger wirkt.
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Sogar für die beiden Stars der Broadway-Uraufführung von „Wicked“, Idina Menzel und Kristin Chenoweth, gibt es einen hübschen Gastauftritt: als Wiz-O-Mania-Superstars. Und auch für die deutsche Fassung hat man keine Kosten gescheut. Es gibt zwei Synchronfassungen: Eine, in der nur die Dialoge eingedeutscht wurden und die Songs im Original erklingen (vor allem für Ariana-Grande-Fans wichtig).
Die Fortsetzung folgt erst im November 2025
Aber auch eine andere, in der deutsche Musicalsänger singen: Sabrina Weckerlin, die Elphaba schon alternierend in Stuttgart sang, und Sophia Riedel, die in Berlin in „Ku’damm 56“ zu erleben war. Selbst der Cameo-Auftritt der Ur-Besetzung wird liebevoll übertragen, denn da singen auf Deutsch Lucie Scherer und Willemijn Verkaik, die Originalbesetzung der deutschen Erstaufführung.
Fast genauso viel wie mit „Der Zauberer von Oz“ hat „Wicked“ aber noch mit einem anderen Filmklassiker zu tun: „Harry Potter“. Die Zauberschule erinnert nicht von ungefähr an Hogwarts. Es gibt auch einen adäquaten Expresszug dorthin. Und wie Harry Potter muss auch Elphi gegen mächtige böse Geister kämpfen.
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Von der „Harry Potter“-Reihe hat John Chu auch noch anderes gelernt. Wie der letzte Film der Reihe, „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“, wurde auch „Wicked“ in zwei Teilen gedreht. Die Fortsetzung kommt erst November nächsten Jahres in die Kinos. Und das ist schon ein Kunststück: Die Broadwayshow geht gerade mal zweieinhalb Stunden. So lang braucht aber der ganze erste Teil. Das ist das Einzige, was man dem Film vorwerfen kann: dass er allzu sehr gedehnt und ausgewalzt wird.
Und ob Elphaba wirklich gestorben ist, das erfährt man erst im nächsten Jahr. Verhext und zugedröhnt. Aber die Botschaft versteht man schon jetzt. Und die ist, anders als die alten Märchen, durchaus zeitkonform: Niemand sollte verhöhnt und ausgegrenzt werden, nur weil er anders ist.
Filmmusical, USA 2024, 159 min., von John Chu, mit Cynthia Erivo, Ariana Grande, Jonathan Bailey, Michelle Yeoh, Jeff Goldblum