Luzern. Jacques Audiards Film gewann gleich fünf Trophäen. Lars Eidinger und Franz Rogowski gingen leer aus, Wim Wenders erhielt den Ehrenpreis.

Er habe eine Rede vorbereitet, sagte der französische Regisseur Jacques Audiard. Und nicht nur eine, sondern zwei, drei: „Ich war optimistisch.“ Das hat sich ausgezahlt. Bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises am 7. Dezember in Luzern war sein Film „Emilia Pérez“ der große Sieger.

Alle seine drei Reden durfte er halten. Und flachste schon, man solle ihn nicht mehr Jacques Audiard nennen, sondern „Jacques Award“. Gleich anfangs wurde er als bester Regisseur ausgezeichnet, im Laufe des Abends dann auch als Drehbuchautor, und am Ende gewann „Emilia Pérez“ in der Hauptkategorie Europäischer Film. Außerdem gab es noch einen Preis für den Schnitt und für die beste Hauptdarstellerin Karla Sofía Gascón. Ein wahrer Triumph. Und alle anderen Nominierten sahen alt aus.

Ein Dreierrennen, das Audiard klar gewann

Die 37. Verleihung der Europäischen Filmakademie war ein Rennen dreier Filme. Da war „The Room Next Door“ von Pedro Almodóvar, ein kämpferisches Plädoyer für selbstbestimmtes Sterben und Sterbebegleitung. Und doch nicht der beste Film des spanischen Altmeisters. Den Goldenen Löwen von Venedig, sein erster Hauptpreis bei einem A-Festival, hatte er im September wohl eher für sein Gesamtwerk erhalten als für diesen Film.

Und dann war da noch „Die Saat des heiligen Feigenbaums“, ein eminent politischer Film von Mohammad Rasoulof im Zuge der „Frau Freiheit Leben“-Proteste, der heimlich im Iran gedreht wurde, mit deutschen und französischen Geldern finanziert  und in Deutschland fertiggestellt wurde. Ein Film aber, der eine Diskussion ausgelöst hätte, wie europäisch ein europäischer Film sein muss.

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Europäischer Filmpreis in Luzern verliehen
Als erste Trans-Frau wurde die Spanierin Karla Sofía Gascon als Europäische Schauspielerin ausgezeichnet. © DPA Images | Philipp Schmidli

Beide trafen in den Kategorien Regie, Drehbuch und Europäischer Film direkt auf Audiard. Und beide unterlagen dessen in Mexiko, auf spanisch gedrehten Film: ein gewagter, mutiger Mix aus Musical, Sozialdrama, Emanzipationsfilm und Thriller – über einen brutalen Drogenkartellboss, der untertauchen muss, sich deshalb einer Geschlechtsumwandlung unterzieht. Und als Frau tatsächlich zu einem besseren Menschen wird.

Mit Karla Sofía Gascón gewann damit erstmals eine Trans-Schauspielerin in dieser Kategorie – und dankte dem Europäischen Regisseur des Jahres, dass er sie zur Europäischen Schauspielerin des Jahres gemacht habe. Ein fulminanter Triumph für „Emilia Peréz“, mit genauso vielen Preisen wie beim Vorjahressieger „Anatomie eines Falls“.

Eine Überraschung gab es nur beim besten Schauspieler

    Das machte den Abend, mochte sich Audiard noch so oft entschuldigen, dass er schon wieder auf der Bühne stand, ein wenig eintönig. Überraschend war eigentlich nur der Preis für den besten Schauspieler, der nicht an einen der Stars ging, nicht an Ralph Fiennes oder Daniel Craig, auch nicht an die Deutschen Lars Eidinger oder Franz Rogowski. Hier gewann gegen jede Erwartung der Newcomer Abou Sangare für „L’histoire de Souleymane“.

Das waren auch schon die einzigen Hoffnungen, die sich der deutsche Film an diesem Abend machen konnte. Abgesehen noch von Soleen Yusefs Jugendfilm „Sieger sein“, der aber beim European Young Audience Award gegen „Das fantastische Leben des Ibelin“ unterlag.

Winners Portraits & Press Conference - European Film Awards 2024 In Lucerne
Der Ehrenpreis fürs Lebenswerk ging an Wim Wenders. © Getty Images | Vittorio Zunino Celotto

Dafür ging der Ehrenpreis an Wim Wenders. Der Berliner Filmemacher hat sicher jeden Preis verdient. Doch dieser hatte ein gewisses Geschmäckle, war Wenders doch 24 Jahre lang Präsident der Filmakademie. Doch Juliette Binoche, die neue Präsidentin, die an diesem Abend ihre erste Verleihung bestritt, rechtfertigte diesen Schritt im Vorfeld in einem persönlichen Gespräch: Als ihr Vor-Vorgänger habe Wenders so viele Ehrenpreis an andere verliehen, nie habe man ihm einen geben können, das sei überfällig gewesen.

Und so ließ es sich Binoche auch nicht nehmen, ihm den Preis persönlich zu überreichen und nicht nur seiner vielen filmischen Verdiensten zu gedenken, sondern auch seiner Arbeit für die Akademie. Es war einer der bewegendsten Momente des Abends, nicht nur Wenders rang da mit den Tränen, sondern auch die Präsidentin bei ihrer sehr persönlichen Rede.

Wenders und Binoche rangen beide mit den Tränen

Wenders dankte ebenso emotional. Weil es nicht üblich sei, dass eine Familie einen Preis verleihe. Das aber sei hier der Fall: weil die Akademie ihm über all die Jahre eine Familie wurde. Weshalb seine Rede auch nicht die üblichen Dankesworte beinhaltete, sondern ein mahnendes Plädoyer. Die Akademie sei größer „als jeder von uns“, sagte er. Und übertrug den berühmten Kennedy-Spruch „Denk nicht daran, was das Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst“ auf Europa, das derzeit in großer Gefahr sei.

Auf diese Gefahr wurde an diesem Abend immer wieder hingewiesen, schon von Binoche in ihrer Eingangsrede, auch von dem belarussischen Regisseur Andrei Gnyot, der nur dank der Intervention der Filmakademie aus der Haft entlassen worden war. Oder von der Siegerin Gascón, die extra ein blaues Kleid angezogen hatte, um Farbe zu bekennen. Die Europäische Filmakademie hat den Begriff Europa schon immer etwas weiter gefasst und auch Länder wie Israel und die Türkei aufgenommen. Europa, das sei gerade die Vielschichtigkeit der Stimmen.

Preisverleihung der 37. European Film Awards
Der Ehrenpreis für einen Beitrag zum Weltkino ging an die italienische Schauspielerin Isabella Rossellini. © DPA Images | Michael Buholzer

Dazu zählen auch kritische Stimmen. Als bester Dokumentarfilm wurde der umstrittene Berlinale-Beitrag „No Other Land“ des Israeli Yuval Abraham und des Palästinensers Basel Adra gekürt, und beide wiederholten ihre Vorwürfe, die sie schon auf der Berlinale geäußert hatten, und sprachen von „Apartheid“ und „Genozid“. Dafür wurden sie im Saal beklatscht, es ist auch nicht zu erwarten, dass sich daran ein Empörungsfuror anschließt wie im Februar in Berlin.

Streitbare und versöhnliche Zwischentöne

Dass es freilich auch moderater geht, demonstrierte die palästinensische Schauspielerin Hiam Abbas, die den Hauptpreis vergab, davor aber darum bat, an alle Kinder in Gaza zu gedenken und für Frieden zu beten. Es geht auch ohne Vorwürfe und Schuldzuweisungen.

    Die Schweiz hat alles aufgeboten bei dieser Verleihung im 1.898 Plätze zählenden Konzertsaal des Kultur- und Kongresshauses Luzern (kurz KKL), direkt am See (und derzeit hinter einem Weihnachtsmarkt): mit dem vielsprachigen Moderator Fernando Tiberini, mit der Popsängerin Nubya, einem großen Orchester und sogar einem Chor. Und doch ist der Abend mal wieder überlang geraten. 28 Preise wurden verliehen, acht Nebenpreise, die schon zuvor bekannt gegeben waren, im Schnelldurchlauf.

Preisverleihung der 37. European Film Awards
Juliette Binoche bestritt bravourös ihre erste Verleihung als neue Präsidentin der Europäischen Filmakademie. © DPA Images | Philipp Schmidli

Vielleicht sollte sich die Akademie, sollte sich die neue Präsidentin einmal Gedanken um eine radikale Straffung machen. Und wie man den Filmpreis attraktiver machen kann. Denn wieder mal glänzten einige Nominierte durch Abwesenheit.

Allein in der Kategorie Schauspieler waren nur zwei persönlich im Saal und einer zugeschaltet, zwei andere fehlten ohne Erklärung. Wären sie für einen Oscar nominiert, wären sie sicher anwesend gewesen. Das zeigt, dass der europäische Gedanke auch in der Filmakademie, die über die Preise entscheidet wie ihr amerikanisches Pendant über die Oscars, noch ausbaufähig ist.

Die nächste Verleihung findet erst 2026 statt

Der nächste Europäische Filmpreis wird nicht im Dezember kommenden Jahres, sondern erst im Januar 2026 verliehen. Wovon sich die Filmakademie eine größere Aufmerksamkeit erhofft: in der Award Season zwischen Globe und Oscar. Aber ob die Nominierten dann noch Zeit für Europa finden?

DIE PREISE IM ÜBERBLICK

Europäischer Film: „Emilia Pérez“ von Jacques Audiard (Frankreich).

Regie: Jacques Audiard für „Emilia Pérez“.

Drehbuch: Jacques Audiard für „Emilia Pérez“.

Schauspielerin: Karla Sofía Gascón für „Emilia Pérez“.

Schauspieler: Abou Sangare für „Souleymane‘s Story“.

Dokumentarfilm: „No Other Land“ von Youval Abraham und Basel Adra (Palästina/Israel).

Animationsfilm: „Flow“ von Gints Zilbalodis (Lettland, Frankreich, Belgien).

Kurzfilm: „The Man Who Could Not Remain Silent“ von Nebojša Slijepčević (Kroatien, Bulgarien, Slowenien).

Europäische Entdeckung - Prix Fipresci: „Elternabend“ von Halfdan Ullmann Tøndel (Norwegen, Niederlande, Deutschland, Schweden)

European Young Audience Award: „Das fantastische Leben des Ibelin“ von Benjami Ree (Norwegen).

Internationaler Ko-Produktionspreis Eurimages: Labina Mitevska (Mazedonien).

Ehrenpreis für einen Beitrag zum Weltkino: Schauspielerin Isabella Rossellini.

Ehrenpreis fürs Lebenswerk: Regisseur Wim Wenders.