Auch in der Hansestadt entwickelt sich das Fernsehen immer mehr zu einem Hintergrundmedium. Vor allem Frauen widmen sich während des TV-Konsums noch zahlreichen Nebenbeschäftigungen.
Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als sich die ganze Familie abends vor dem Fernseher versammelte? Gemeinsam wurde „Derrick“, „Dallas“ oder der „Denver Clan“ geschaut, wenn Boris Becker oder Steffi Graf Tennis spielten, fieberten alle mit, und die großen Sonnabendabendshows wollte ohnehin niemand verpassen. Am nächsten Tag wurde dann am Arbeitsplatz, in der Schule, im Treppenhaus oder am Telefon über das Gesehene geredet und diskutiert.
Und noch etwas war typisch für die Zeit: Man wollte die Sendung möglichst ohne jede Störungen, Ablenkungen und Unterbrechungen schauen. Geredet wurde kaum, wenn es an der Tür klingelte, wurde geflucht – und wenn tatsächlich jemand einmal drohte einzuschlafen, war dieser froh, schnell wieder geweckt zu werden, denn verpassen wollte man nichts. Kurzum, das Fernsehprogramm war ein Mittelpunkt unseres Lebens, strukturierte die Feierabendgestaltung und war eine Art Lagerfeuer im eigenen Wohnzimmer.
Heute ist das Fernsehen zu einem „Nebenbeimedium“ geworden, das zwar durchschnittlich 221 Minuten pro Tag eingeschaltet wird, aber dennoch immer weniger geschaut wird. Nicht einmal jeder fünfte Bewohner unserer Stadt sieht ausschließlich fern. Dagegen isst jeder zweite Hamburger während der Sendung, jeder Dritte telefoniert und jeder Vierte schläft sogar ein. Besonders aktiv vor dem Fernseher sind übrigens die Frauen: Fast doppelt so häufig wie Männer telefonieren sie, achtmal so oft bügeln sie die Wäsche oder erledigen Hausarbeiten und fünfzehnmal häufiger widmen sich Frauen vor laufendem Fernsehgerät der eigenen Schönheitspflege – von der Pediküre bis zur Maniküre. Männer sind von diesen Multitasking-Fähigkeiten weit entfernt – die Spitzenposition nehmen sie eigentlich nur bei einem Statement ein: „Ich sehe ausschließlich fern.“
Groß sind aber auch die Unterschiede innerhalb der Lebensphasen. Fast drei Viertel aller Singles essen vor dem Bildschirm, während nahezu jedes zweite Paar diese Zeit nutzt, um sich zu unterhalten. Und während Familien besonders aktiv sind und vor laufendem Gerät Hausarbeiten erledigen, schläft jeder dritte Jungsenior im Alter von 50 bis 64 Jahren ein. Bei den Ruheständlern wird am häufigsten ausschließlich ferngesehen, während sich dies nicht einmal ein Prozent der Jugendlichen überhaupt vorstellen kann. Dafür erledigt jeder zweite 14- bis 17-Jährige während des TV-Konsums seine Hausaufgaben.
Schwere Kost ist die Ausnahme
Woran aber liegt es, dass uns die Programminhalte im Gegensatz zu früheren Zeiten immer seltener fesseln und wir uns parallel auch anderen Dingen zuwenden? Der langjährige Programmchef von RTL, Helmut Thoma, beschrieb seine Programmauswahl stets mit zwei einfachen Sätze: „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“ und „Im seichten Wasser kann man nicht untergehen“. Beides kennzeichnet heute zum Großteil die Inhalte der Sendeanstalten – das Programm ist massentauglich und leicht, unterhält und berieselt. Schwere Kost ist eher die Ausnahme, und wer ehrlich ist, wird zugeben, selber auch öfter durch die privaten Sender zu zappen und nicht nur Dokumentationen auf Arte oder 3sat zu schauen. Neben dem Inhalt sind es aber auch die Zeitnot und die innere Unruhe, die uns abdriften und anderen Aktivitäten zuwenden lassen. Wer einem Film einen ganzen Abend widmet, hat schnell das Gefühl, etwas anderes verpasst, nicht genug geschafft oder erledigt zu haben. Denn selbst am Feierabend haben wir häufig noch das Bedürfnis, etwas Produktives tun zu müssen.
Fazit: Vor genau fünfzig Jahren vertrat der berühmte kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan die These, dass sich das Fernsehen – im Gegensatz zum Radio – niemals zu einem bloßen Hintergrundmedium entwickeln würde, da es den Zuschauer viel zu sehr fordere.
Für die Gegenwart trifft dies offensichtlich nicht zu. Die Sendeanstalten fordern die Zuschauer mit ihrer Programmauswahl viel zu selten und scheinen sich mit der Rolle eines Nebenbeimediums abgefunden zu haben.
Prof. Ulrich Reinhardt vom BAT-Institut für Zukunftsfragen analysiert jeden Montag für das Abendblatt, wie die Hamburger ticken