Hamburg. Ein Gespräch mit der Hamburger Sängerin über das neue Album „Babyblue“, Trost im Rotlichtmilieu und ihren ersten politischen Song.
Wer weiß, wo Annett Louisan gerade ist, als wir mit ihr zum am Freitag erscheinenden neuen Album „Babyblue“ telefonieren: Vielleicht daheim in St. Georg? Vielleicht auf dem Weg zur Croisette in Cannes in einem alten Alfa Romeo Spider? Oder in Goslar, um dort den Paul-Lincke-Ring für ihre besonderen Verdienste um die deutsche Unterhaltungsmusik entgegenzunehmen?
Irgendwas ist ja immer los bei der Hamburger Sängerin, und doch ist einiges neu auf „Babyblue“. Es ist düsterer, ja sogar zeit- und gesellschaftskritischer als die neun Vorgängeralben. Sind das „die mittleren Jahre“?
Hamburger Abendblatt: Vor drei Jahren sagten Sie zu uns: „Ich bin 40 und Mutter geworden, auch eine Zeit, in der man zurückschaut. Das ist auch ein wenig therapeutisch.“ Wie war denn seitdem der weitere Therapieverlauf?
Annett Louisan: Es ging richtig ans Eingemachte. Aber ich bin jetzt absolut in den mittleren Jahren angekommen, und ich würde meinen, dass es mit meinem anstehenden 46. Geburtstag wieder bergauf geht.
Hört man den Text der Albumeröffnung mit „Die mittleren Jahre“, dann klingen Sie eher semizufrieden. Man sitzt nur noch vor dem Café Paris, fragt sich – ein Zitat, das ich mal im Café Paris vom Nebentisch aufgeschnappt habe – „wo bleibt die Kuh mit den Austern?“ und die Zeit der Aufregung ist vorbei. Bedauern Sie das?
Louisan: Das ist ja nur eine Momentaufnahme und so würde ich es auch nicht interpretieren. Es ist eigentlich eher die Erkenntnis, dass man weiß, dass man gar nichts weiß. Wir alle wissen nicht, was das Leben, die Liebe bedeuten und was nach dem Tod passiert. Aber die Tatsache, dass ich heute milder mit mir und anderen umgehe und nicht mehr zu wissen glaube und bewerte, was richtig und falsch ist, macht etwas Gutes mit mir. Und es inspiriert mich. Älterwerden ist nichts für Weicheier, aber mit viel Humor und Ehrlichkeit kann das auch etwas Tolles sein.
Annett Louisan: „Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht“
Noch ein Satz von Ihnen: „Früher brauchte ich immer Riesenfeuerwerk. Tamtam! Sieben Tage die Woche, in jeder Beziehung.“ Jetzt fangen Sie schon an, im Lied „Wenn ich mal sterben sollte“ über den Tod zu singen. Es wird düsterer.
Louisan: Ich beginne meine dunkle Seite zu entdecken. Und ich bin im Alltag mit vielen Menschen nicht sehr kompatibel. Ich brauche und biete Freiraum und Toleranz. Aber ich mag nicht mehr zu hören bekommen, wo es für mich langgehen soll. Früher hatte ich den unbedingten Drang zu gefallen. Da war ich oft zu passiv und habe das zugelassen oder mich herausgewunden und Kontakte abgebrochen. Beides Scheißwege. Jetzt erscheint die Platte unter meiner Obhut und Führung – und ja, sie sehr dunkel und melancholisch geworden. Aber ich brauche das. Und es ist ein schönes Gefühl, es einfach zu machen, ohne Angst.
Zu den dunklen Seiten: Was ist die Geschichte hinter dem Titelsong „Babyblue“, einer Begegnung mit einer Sexarbeiterin auf St. Pauli?
Louisan: „Babyblue“ ist eine fiktive Person, obwohl ich einen Hang zum Rotlichtmilieu habe. Und irgendwie finde ich es schade, dass in Deutschland alles so wahnsinnig artig ist. Ironie, Melancholie, das darf nur bissfertig serviert werden. „Babyblue“ ist vielleicht meine dunkle Seite, es steckt viel von ihr in mir. Eine an Fäden hängende Marionette, die Liebe schenkt im gleißenden Licht. Ich habe jedenfalls große Hochachtung und Respekt vor Sexarbeiterinnen. Die haben viel Leid auf dieser Welt auf sich genommen und dadurch abgehalten. Aber diese Ehrlichkeit dieser Menschen, die mir in Gesprächen auf dem Kiez in den Kneipen begegnet, wenn die Nacht am dunkelsten ist, die sind sehr berührend. Die habe ich in der einen oder anderen Nacht selber beanspruchen müssen. Das ist „Babyblue“ für mich.
Im Lied „Das Universum schlägt zurück“ erwischt einen Menschen das Karma. Hat es Sie auch mal übel erwischt?
Louisan: Mich hat Karma noch nie erwischt. Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht, auch in meiner Kindheit, und habe das bis in meine mittleren Jahre verdrängt. Und ich habe Fehler gemacht. Aber ich hatte nie das Gefühl, ich würde vom Universum oder irgendwem dafür bestraft werden. Aber ich habe Menschen getroffen, wo das Universum verdientermaßen zurückgeschlagen hat, und das hat mich auch wieder an etwas glauben lassen.
Glauben Sie denn? Das Leonhard Cohens „Hallelujah“ parodierende „Hallo Julia“ dürfte einigen Katholiken sauer aufstoßen.
Louisan: Oh ja, es gab schon einige wütende Reaktionen. Aber ich glaube. An mich, an meine Tochter, auch an eine Art Gott. Aber Religion halte ich für gefährlich, das hat die Geschichte gezeigt.
„Die fabelhafte Welt der Amnesie“ ist Ihr erster politischer Song. Eine Auseinandersetzung mit Wutbürgern, die im Kleinbus nach Berlin zum Brandenburger Tor fahren, und „Wir sind das Volk“ und „Ausländer raus“ schreien.
Louisan: Zuerst mal versucht man mit dem eigenen Leben klarzukommen, als Familie. Man versucht vieles zu auszublenden, nicht an sich ranzulassen. Aber der Spagat zwischen Ignoranz und Selbstschutz ist gar nicht so einfach. Es gibt Leute, die bei Beginn des Krieges in der Ukraine wirklich krank geworden sind vor Sorge und Angst, und da hört man auf, weitere Informationen aufzunehmen. Wir setzen uns immer nur dann für etwas ein oder schauen nicht mehr weg, wenn es uns selbst betrifft, unser Häuschen, unsere Familie.
Bislang drehten sich Ihre Lieder weitgehend eher um das Herz als um den Verstand.
Louisan: Absolut. Es ging um Politik im Kleinen.
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Das Private ist politisch und das Politische ist privat. Politikwissenschaft!
Louisan: Ja, aber nicht zu viel. Ich gebe auch zu: Ich bin keine Politikexpertin. Ich schaue da lieber zu und höre es mir an. Aber dieses Lied musste einfach mal raus. Ich kann mir aber auch schon die Reaktionen denken: „Schuster bleib bei deinen Leisten“, „Sei mal nicht so traurig, lächle doch mal“.
Am 21. Februar geht es mal wieder in die Elbphilharmonie. 2019 lief bei Ihrem Konzert dort akustisch nicht alles rund. Haben Sie Respekt vor dem Großen Saal?
Louisan: Oh ja, natürlich. Aber wir lassen uns noch mehr beraten. Ich habe auch eine komplett neue Band und einige Überraschungen im Programm.
Hohe oder flache Schuhe? Ich frage nicht wegen der Optik, sondern wegen der Geräusche auf dem Parkett.
Louisan: Ich brauche hohe Schuhe. Für die Haltung. Und sie zwingen mich dazu, immer hochkonzentriert zu bleiben. Auch damit ich nicht umfalle.
Annett Louisan Di 21.2., Elbphilharmonie, ausverkauft; Mi 29.11., Laeiszhalle, Karten ab 15.2. im Vorverkauf; www.annettlouisan.de